Eine Freundschaft im Winter
Wind.
160 cm am Berg, 183 cm auf dem Gipfel; 0 cm Neuschnee in den letzten 24 Stunden; 3 cm Neuschnee in den letzten 48 Stunden.
N atürlich hatte Jill darüber nachgedacht. Mike sah gut aus, und im Gegensatz zu David war er anständig. Natürlich hatte sie die Familienfotos betrachtet und sich gefragt, warum sie nicht das Glück gehabt hatte, einen Mann wie Mike zu heiraten.
Und ja, es war genauso offensichtlich für sie wie für alle anderen, dass sie beide alleinstehend und ungefähr im gleichen Alter waren. Es war aber genauso offensichtlich, dass sie beide viel zu viel durchgemacht hatten. Und nicht nur das – es war auch noch nicht lange her. Das Trauma war noch frisch. Viel zu frisch, um erträglich zu sein. Trotzdem dachte sie darüber nach.
Seit dem Tag, an dem er so traurig gewesen war, war ihr bewusst, wie sehr er ihr als Mensch gefiel.
Es war leicht, sich andere Umstände auszumalen, wenn sie die Küche im Haus putzte und er von der Arbeit kam. Es war leicht, sich für einen kurzen Moment auszumalen, dass sie ihn statt David geheiratet hätte. Und obwohl der Traum nie besonders detailliert oder komplex war – es war nur ein flüchtiges Gefühl –, kam sie sich jedes Mal albern vor, wenn der Augenblick wieder verflog. Und schuldig. Irgendwie kam es ihr falsch vor. Obwohl Kate tot war, fühlte Mike sich noch immer verheiratet.
Trotzdem ertappte Jill sich dabei, wie sich Aufregung in ihr breitmachte, wenn sie ihn morgens antraf. Sie wünschte sich, es wäre anders, doch sie freute sich.
Sie zog die Blaubeermuffins aus dem Ofen, bevor Cassie zur Schule musste. Genau genommen hatte sie sie für Mike gebacken. Zwar sah es aus, als hätte sie es für Cassie getan, aber eigentlich wollte sie nur eine Ausrede haben, um noch ein paar Minuten mit Mike zusammenzusitzen, ehe sie los musste.
»Was ist das Knusprige darin?«, fragte Cassie, als sie in einen Muffin biss.
»Hirse«, antwortete Jill.
»Schmeckt lecker«, rief Cassie über die Schulter, während sie schon die Tür aufriss und nach draußen stürmte.
Mike kam gerade rechtzeitig, um sie noch abzufangen. Sie umarmten sich ein paar Sekunden länger als normal. Und während Jill die beiden durchs Fenster beobachtete, fragte sie sich, ob es daran lag, dass Mike wieder einen schwierigen Einsatz gehabt hatte, bei dem ein Kind verunglückt war, oder ob Kate der Grund war.
»Mmh! Das duftet ja köstlich!«, sagte er, als er hereinkam.
»Hallo!«, grüßte sie und lächelte ihn an. Sie hoffte, dass die ganze Aktion nicht zu auffällig war. Reiß dich zusammen, mahnte sie sich.
Er legte sich einen Muffin auf den Teller, schenkte sich Saft ein und setzte sich an den Tisch. Und war nicht der leicht vorgerückte Stuhl eine Einladung, dass sie sich ebenfalls setzen sollte? Ja, also nahm sie sich einen Muffin und eine Tasse heißen Tee und ließ sich ihm gegenüber am Tisch nieder. In dem Moment wurde ihr bewusst, dass es nicht nur die männliche Gesellschaft war, auf die sie sich an diesen Morgen freute. Es war vor allem ihr gegenseitiges Verständnis.
Schweigend fuhren Onkel Howard und Jill im Sessellift den Berg hinauf. Er hatte ein kleines Tütchen vor sich und knabberte Studentenfutter. »Du bist so still«, sagte er.
»Ich fahre morgen mit Lisa nach Austin. Und ich habe Angst davor. Angst vor allem, was mich dort erwartet. Davor, David wiederzusehen. Vor dem Gericht. Einfach vor allem.«
»Hast du einen Anwalt gefunden?«
»Ja, Wes Huesser«, sagte Jill. »Diese Anhörung wird aller dings nicht viel mit der Scheidung zu tun haben. Der Richter will lediglich eine Entscheidung treffen, wie die Finanzen geregelt werden, bis die Scheidung endgültig durch ist.«
Er nickte. »Jill, du solltest Folgendes tun: Du wirst dort hingehen und dich selbst dabei beobachten, wie du an der Anhörung teilnimmst. Und du wirst denken: ›Hm, ist das nicht interessant?‹ Aber du wirst die Situation nicht bewerten, sondern nur verfolgen. Dadurch wirst du die Wahrheit so klar sehen wie niemals zuvor. Das wird dir inneren Frieden schenken. Du wirst dir im Gerichtssaal kleine rosa Wölkchen vorstellen, die um dich herumschweben. Beleidigungen oder ungute Absichten, die dir gelten könnten, werden auf die rosa Wölkchen treffen und ihren Schwung verlieren. Sie werden dich nicht berühren. Egal, was auf dich zukommt, versuche nicht, es abzufangen. Tritt einfach zur Seite, und lass es vorbeiziehen. Stell dir die Worte als Bälle vor, die im Raum umherhüpfen – wie beim
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