Eine für vier 01 - Eine für vier
ordentlichen Fluggesellschaftsgeruch und freute sich schon allein über die Anzahl der Verpackungen in ihrem Verpflegungs-Beutel.
Sie bewunderte auch die Verpflegung selbst. Den winzigen Mini-Apfel, der haargenau die richtige Größe, Form und Farbe hatte. Er wirkte irgendwie unecht, vermittelte aber gleichzeitig ein beruhigendes Gefühl. Sie steckte ihn ein, um sich ein bisschen von dieser Ordnung für später aufzuheben.
Sie war noch nie in der Wohnung ihres Vaters gewesen - er war immer zu ihr gekommen. Aber sie hatte sich ausgemalt, wie er lebte. Ihr Vater war nicht schlampig, aber ein zweites X-Chromosom hatte er auch nicht gerade. Bestimmt hingen keine Gardinen an den Fenstern, über die Betten waren keine Tagesdecken gebreitet und im Kühlschrank gab es keine Hefe. Auf dem Fußboden würden sich ein paar Staubmäuse herumtreiben. Vielleicht nicht mitten im Zimmer, aber in der Sofaecke. (Ein Sofa würde es doch geben, oder?) Sie konnte nur
hoffen, dass sie auf Baumwoll-Laken schlafen würde. Wie sie ihren Vater kannte, hatte er womöglich Bettwäsche aus Polyester-Mischgewebe. Mit Polyester lag Carmen im Clinch. Dagegen war sie machtlos.
Vielleicht konnte sie ihn zwischen Tennisspielen und John-Woo-Filmen - oder was sie an Samstagnachmittagen sonst für Beschäftigungen fanden - in ein Haushaltswarengeschäft schleppen und einen richtigen Teekessel besorgen und Handtücher, die farblich zusammenpassten. Er würde nur unter Protest mitkommen, aber sie würde dafür sorgen, dass sie ihren Spaß dabei hatten, und hinterher wüsste er ihre Bemühungen bestimmt zu schätzen. Sie stellte sich vor, dass er am Ende des Sommers vielleicht traurig wäre und Erkundigungen über die Highschool am Ort einholte und sie mit großem Ernst fragte, ob sie sich in South Carolina zu Hause fühlen könnte.
Carmen warf einen Blick auf die Gänsehaut, die sich über ihren Unterarm zog. Lauter kleine Hubbel, die bewirkten, dass sich die zarten, dunklen Härchen aufstellten.
Sie hatte ihren Vater seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Weihnachten war immer ihre Zeit. Er mietete sich für vier Tage in der Fürstensuite im Hotel ein und sie machten gemeinsame Unternehmungen. Sie gingen ins Kino, liefen am Kanal entlang und tauschten die Geschenke um, die sie von seinen durchgeknallten Schwestern bekommen hatte.
Oft gab es auch noch andere Abende, etwa drei oder vier im Jahr, wenn er auf Geschäftsreise nach Washington kam. Sie wusste, dass er jede Gelegenheit nutzte, um in die Gegend zu kommen. Dann aßen sie immer in einem Restaurant ihrer Wahl zu Abend. Sie gab sich Mühe, ein Restaurant auszusuchen, das ihm gefallen würde. Wenn er die Speisekarte las und später seinen ersten Bissen aß, beobachtete sie ihn ganz genau und musterte sein Gesicht. Von ihrem eigenen Essen schmeckte sie kaum etwas.
Sie konnte ein Knirschen unter dem Flugzeug spüren. Entweder fiel gerade ein Triebwerk ab oder das Fahrgestell wurde zur Landung ausgefahren. Es war so stark bewölkt, dass sich nicht abschätzen ließ, wie hoch sie über dem Boden waren. Carmen presste die Stirn an das kalte Plastikfenster. Sie kniff die Augen zusammen und wünschte sich mit aller Macht eine Lücke in der Wolkendecke. Sie wollte den Ozean sehen. Sie wollte sich austüfteln, wo Norden war. Sie wollte vor der Landung den großen Ausblick haben.
»Bitte klappen Sie den Tisch hoch und befestigen Sie ihn an der Rückenlehne Ihres Vordersitzes«, zwitscherte die Flugbegleiterin dem Mann zu, der neben Carmen am Gang saß; dann schnappte sie sich die Reste von Carmens Verpflegungs-Beutel. Der Mann neben Carmen war schwergewichtig und nahezu kahlköpfig und er rammte ihr dauernd seine kunstledeme Aktentasche gegen das Schienbein.
Wenn Bridget flog, saß sie immer neben hinreißenden College-Studenten, die sie vor der Landung um ihre Telefonnummer baten. Carmen bekam immer den mittleren Sitz zwischen Männern mit dicken Fingern, Siegelringen und Verkaufsberichten.
»Die Flugbegleiterinnen nehmen jetzt bitte ihre Plätze ein«, gab der Flugkapitän über die Sprechanlage durch. Carmen spürte tief unten im Bauch ein erregtes Kribbeln. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, stellte jetzt aber beide Füße auf den Boden. Dann bekreuzigte sie sich, wie es ihre Mutter bei jedem Start und jeder Landung machte. Sie kam sich dabei ein bisschen wie eine Schwindlerin vor, aber jetzt war wohl kaum der richtige Augenblick, um mit Aberglauben zu brechen.
Tibby,
Du bist bei mir,
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