Eine ganz andere Geschichte
anschließend mindestens eine Minute lang niemand etwas sagte. Wir saßen und standen da, zusammengekauert in der Plicht, Troaë lag leblos zu unseren Füßen, wir lauschten dem nachlassenden Regen und konnten spüren, wie sich die Wellen unter uns beruhigten. Der Wind legte sich auch, während die Dunkelheit zunahm und uns immer fester zu umschließen schien; Meer, Himmel, Küste, alles hatte den gleichen grauschwarzen, undurchdringlichen Ton. Das Einzige, was sich abhob, war eine Anzahl kleiner Lichter auf dem Land, nicht mehr als fünf winzige Nadelstiche in dem Schwarz, und es war unmöglich, den Abstand bis dorthin einzuschätzen. Vielleicht nicht mehr als ein Kilometer, vielleicht deutlich weiter. Ganz links, was immer noch Westen sein musste, entdeckte ich ein Licht, das kam und ging; ich vermutete, es war der Leuchtturm von Beg-Meil. In diesem Fall waren wir weit nach Osten abgetrieben, was sicher mit der Windrichtung übereinstimmte. Im Nachhinein begreife ich nicht, wie ich in der Lage war, diese Beobachtungen zu machen, diese sinnlosen Einschätzungen. Mein Körper erschien wie abgestorben, mein Kopf pochte dumpf, von meinem verletzten Fuß schoss ab und zu ein stechender Schmerz hoch. Das ist der Nullpunkt, ich erinnere mich, dass ich das dachte. Der absolute Nullpunkt.
Als Erste sagte Anna etwas.
»Tot? Sie kann doch nicht tot sein?«
Henrik, der sich am wenigsten an den Rettungsarbeiten beteiligt hatte, schnaubte nur. »Guck sie doch an«, sagte er. »Wenn die nicht tot ist, was glaubst du denn, was sie ist?«
Aber seine Stimme klang deutlich jämmerlicher als die Worte selbst.
»Halt die Klappe, Henrik«, sagte Katarina. »Mein Gott, was sollen wir nur tun?«
»Was sollen wir tun?«, wiederholte Gunnar dumm. »Wie zum Teufel konnte das passieren?«
Anna wandte sich mir zu. »Du verdammter Idiot, du warst es, der sie hat über Bord gehen lassen.«
»Ich habe sie nicht halten können«, sagte ich. »Es tut mir leid.«
»Leid?«, fragte Henrik höhnisch. »Ach, es tut dir leid?«
»Was soll ich denn deiner Meinung nach sagen?«, fragte ich.
Katarina Malmgren fing an zu weinen. Laut und durchdringend.
»Wieso heulst du?«, blaffte Erik. »Du warst es doch, die sie auf diese verfluchte Fahrt mitnehmen musste.«
»Ich wollte ja nicht, dass …«, versuchte Katarina.
»Stimmt«, nickte Anna. »Du warst es, du hast sie mitgeschleppt. Und was gedenkst du jetzt zu tun? Was gedenkst du zu tun?«
Es lag etwas Panikartiges und gleichzeitig fast Triumphierendes in Annas Stimme, eine Mischung, wie ich sie vorher nie gehört hatte. »Ich wäre fast ertrunken, ich auch!«, schrie sie plötzlich. »Aber darum kümmert sich natürlich niemand!«
Ich erinnerte mich daran, dass sie tatsächlich mitten in dem ganzen Durcheinander ins Wasser gefallen war, und es konnte sehr wohl so sein, wie sie sagte. Zumindest hatte sie einen ziemlichen Schreck bekommen. Keiner von uns anderen hatte sich um sie gekümmert, alle waren mit dem Mädchen beschäftigt gewesen. Eine Weile blieb es still.
»Das Unwetter hat sich gelegt«, sagte Gunnar. »Anscheinend treiben wir aufs Land zu. Nun reißt euch zusammen, und dann gehen wir hinunter unter Deck und diskutieren, wie wir weiter vorgehen.«
Das taten wir. Wir ließen das tote Mädchen oben in der Plicht liegen und zwängten uns auf die Bänke unten in der kohlrabenschwarzen Kajüte, alle sechs. Katarina fragte, ob nicht wenigstens einer oben an Bord bleiben und Wache bei der Toten halten sollte, aber keiner nahm überhaupt Notiz von diesem Vorschlag.
»Warum gibt es überhaupt kein Licht hier?«, klagte Anna. »Warum um alles in der Welt gibt es auf diesem Scheißboot nicht ein winziges bisschen Licht?«
»Beruhige dich, Anna«, sagte Gunnar. »Versuche ein einziges Mal, ein bisschen erwachsen aufzutreten.«
»Erwachsen?«, schrie Anna. »Willst du von erwachsen reden, du perverses Schwein?«
Ich weiß nicht, worauf Anna anspielte, möglicherweise wusste Gunnar es, denn er gab ihr eine Ohrfeige. Ich glaube nicht, dass sie richtig traf, wahrscheinlich konnte sie sich mit einer Hand schützen, aber die Aktion an sich genügte, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Also, was tun wir?«, fragte Henrik.
Er klang ängstlich, wie ich merkte. Eine Art nervöser, leicht unterdrückter Angst, die er nicht ganz zu verbergen vermochte.
»Gute Frage«, sagte Erik.
»Als Erstes fangen wir damit an, uns zu beruhigen«, sagte Gunnar. »Es ist niemandem damit gedient, wenn wir hier
Weitere Kostenlose Bücher