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Eine ganz andere Geschichte

Eine ganz andere Geschichte

Titel: Eine ganz andere Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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herumbrüllen, schreien und uns gegenseitig Vorwürfe machen.«
    »Mein Gott, das Mädchen ist tot, kapiert ihr das nicht?«, rief Katarina zum dritten oder vierten Mal, als wäre sie selbst diejenige, die das am schwersten verstehen könnte. Als wäre sie gezwungen, sich in regelmäßigem Abstand immer wieder daran zu erinnern. »Warum habt ihr sie nicht rausholen können?«
    »Wie meinst du das?«, fragte ich. »Glaubst du nicht, wir haben es versucht?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Katarina Malmgren.
    »Wir waren zwei, die es versucht haben«, wies ich sie zurecht. »Und vier standen nur da und haben geschrieen.«
    »Aber nur einer hat sie über Bord gehen lassen«, fügte Henrik hinzu, ich weiß nicht, worauf er damit hinauswollte.
    »Mein Gott, sollen wir das Mädchen denn einfach da oben liegen lassen?«, fragte Katarina, und jetzt brach ihre Stimme. Man konnte hören, dass die Panik sie im Griff hatte und dass zu sprechen und Fragen zu stellen wahrscheinlich die einzige Möglichkeit für sie war, diese Panik in Schach zu halten.
    Gunnar erhob seine Stimme. »Zum Teufel, hört jetzt auf mit diesem Gefasel!«, schrie er. »Begreift ihr denn nicht, dass es keinen Sinn hat, wenn wir uns gegenseitig Vorwürfe machen? Wir sitzen nun mal alle im selben Boot.«
    Erik lachte. »Bravo«, sagte er. »Im selben Boot, welch präzise Beobachtung du doch gemacht hast.«
    Gunnar ignorierte ihn. »Wir müssen uns entscheiden, wie wir vorgehen wollen«, erklärte er. »Alle müssen dem zustimmen, egal zu welchem Beschluss wir auch kommen.«
    »Was faselst du da?«, fragte Katarina. »Was sollen wir tun?«
    »Er ist immer so«, sagte Anna. »Ich habe doch gesagt, dass er pervers ist.«
    Henrik räusperte sich. »Darf ich euch daran erinnern, dass wir ein totes Mädchen an Bord haben«, sagte er. »Ich bin derselben Meinung wie Gunnar, wir müssen eine Entscheidung treffen.«
    Es klang, als hätte er ein wenig Mut gefasst oder zumindest versucht, es zu tun.
    »Danke«, sagte Gunnar.
    »Ich verstehe nicht, was ihr da diskutiert«, sagte Katarina. »Da gibt es doch wohl nichts zu diskutieren, oder?«
    »Ich glaube doch«, widersprach Gunnar. »Und ich glaube, dass einige der anderen das auch so sehen.«
    »Wir müssen«, sagte Katarina, »wir müssen versuchen, an Land zu kommen, und wenn wir das geschafft haben, dann müssen wir natürlich Hilfe holen.«
    »Hilfe wofür?«, fragte Henrik.
    »Das ist doch wohl klar? Für … ja, für …«, sagte Katarina, schaffte es aber nicht, den Satz zu beenden.
    Lange Zeit schwiegen alle. Ich erinnere mich sehr genau, und ich glaube, dass erst jetzt, als wir dort saßen, einer nach dem anderen versuchte, sich bewusst zu werden, in was für eine Situation wir da geraten waren. Versuchte, sich über das übliche triviale Mitleidsniveau zu erheben und den Umständen entsprechend reif zu handeln.
    Es war Anna, die als Erste den Mund aufmachte.
    »So ein Mist«, sagte sie. »Wir sind ohne Erlaubnis mit einem zwölfjährigen Mädchen auf See gefahren und haben zugesehen, wie sie ertrinkt. Wenn mich jemand vorher gefragt hätte, dann hätten wir nie …«
    Erik unterbrach sie. »Wir müssen es vertuschen.«
    »Was?«, fragte Katarina. »Vertuschen. Wie meinst du das?«
    »Wir müssen sie irgendwie loswerden«, sagte Erik.
    »Sag mal, spinnst du?«
    »Nein«, entgegnete Erik. »Ganz im Gegenteil. Wir müssen das Mädchen loswerden und Stillschweigen über die ganze Sache bewahren, das ist die beste Lösung.«
    »Das ist das Schlimmste, was ich …«, setzte Katarina an, doch Gunnar unterbrach sie. »Mach bitte weiter, Erik«, bat er.
    »Ja, natürlich«, sagte Erik. »Was wäre damit gewonnen, wenn wir ihren toten Körper zur Polizei schleppen? Wie sollten wir es erklären? Wer würde uns glauben?«
    »Richtig«, nickte Gunnar, und mir fiel plötzlich ein, dass er normalerweise eine Art Lehrer war, und in dem Moment verhielt er sich ungefähr so, als säße er im Klassenzimmer und lauschte den Ergebnissen einer Gruppenarbeit.
    Erik fuhr fort. »Wir haben uns wie die Idioten benommen, und jetzt sitzen wir hier mit einem ertrunkenen Mädchen. Wollen wir uns weiterhin wie Idioten benehmen, dann gehen wir zur Polizei, das ist jedenfalls meine Meinung. Wenn wir aber vernünftig denken, dann sehen wir zu, dass wir das tote Mädchen auf eine einigermaßen elegante Art loswerden.«
    »Mir ist übel«, sagte Katarina.
    »Elegant?«, fragte Henrik nach. »Ich begreife nicht, wie das gehen soll.«
    »Warte

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