Eine ganz andere Geschichte
setzte, begann er darüber nachzudenken, was das wohl mit dem Elternsein auf sich hatte. Möglicherweise waren es die Gedanken über Eva Backmans beziehungsweise sein eigenes Verhältnis zu drei Kindern, das Schuld daran hatte, aber da war noch etwas anderes.
Dass es sich so unterschiedlich gestalten konnte beispielsweise. Dass ein so verflucht großer Unterschied zwischen einem Menschen und dem anderen bestand, und dass im Großen und Ganzen wer auch immer Vater oder Mutter werden konnte. Anna Erikssons Mutter pflegte laut eigener Aussage mindestens einmal die Woche per Telefon in Kontakt mit ihrer Tochter zu treten, aber sie hatte vor Sonntag keine Zeit, zu kommen, um die Leiche zu identifizieren. Weil sie am Samstag so viel zu erledigen hatte.
Dagegen war es möglich, ein einstündiges Gespräch mit Inspektor Barbarotti dazwischenzuschieben, das hatte sie versprochen.
Er fragte sich, ob er das schon mal erlebt hatte. Dass man die Identifizierung seines ermordeten Kindes als nicht so wichtig ansah. Oder sie zumindest aufschob, um zunächst wichtigere Dinge zu erledigen.
Wobei sie am Telefon gar nicht besonders merkwürdig geklungen hatte. Sie hatte geweint und ihre Verzweiflung ausgedrückt. Etwas unerwartet lautstark vielleicht, aber ansonsten hatte sie sich ganz normal verhalten. Anna war so etwas wie ihre Lieblingstochter gewesen, hatte sie erklärt, und als er gefragt hatte, wie viele sie denn hatte, hatte sie geantwortet, fünf. Plus vier Söhne.
Vielleicht war das der Grund. Wenn man neun Kinder hatte, musste man damit rechnen, dass das eine oder andere dabei draufging. Er hatte nicht versucht herauszubekommen, wie viele verschiedene Väter darin verwickelt waren, aber zwischen den Zeilen dennoch verstanden, dass es mehr als zwei sein mussten.
Weniger als neun? Hoffentlich, dachte Gunnar Barbarotti.
Was ihn selbst betraf, so hatte er einen Vater und eine Mutter gehabt. Der Vater hieß Giuseppe Barbarotti, das Einzige, was er von ihm bekommen hatte, war der Nachname; er hatte ihn nie gesehen und wusste nicht, ob er noch lebte oder tot war. Während seiner Kindheit hatte seine Mutter ihm eingeimpft, dass Giuseppe ein hübscher Mistkerl gewesen sei und dass man sich am besten von ihm fernhielt. Aus irgendeinem Grund war er dieser Empfehlung gefolgt. Als die Mutter vor zwölf Jahren gestorben war, hatte er mit dem Gedanken gespielt, eine Reise nach Italien zu machen, um nach seinem Vater zu suchen, aber aus dem Projekt war nichts geworden. Er war damals mit seiner eigenen Familie so beschäftigt gewesen, mit zwei Kindern, das dritte unterwegs, dass es einfach keinen Platz gegeben hatte, im Generationenbaum weiterzuforschen.
Aber jetzt gibt es keine derartigen Gründe mehr, dachte Gunnar Barbarotti. Was hindert mich eigentlich daran, nach Italien zu fahren und meinen Vater aufzuspüren? Oder das Grab meines Vaters, wenn es denn das sein sollte.
Er wusste, dass es sich bis jetzt nur um einen Gedanken handelte, mit dem man spielen konnte, während man an einem sonnigen Samstagvormittag Auto fuhr – dass diese Frage aber durchaus bleiben und sich verfestigen konnte.
Die Zeit wird es zeigen, beschloss er. Aber dass Kinder den verschiedenen Eltern unterschiedlich viel bedeuten, das erschien in vielerlei Hinsicht ziemlich deutlich zu sein. Dabei fiel ihm ein, dass er Sara am Abend anrufen wollte oder vielleicht auf dem Rückweg. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sie am Wochenende anzurufen, um zu hören, wie es seiner geliebten Tochter in der lebendigen und lebensgefährlichen Großstadt London ging.
Und sie beruhigte ihn jedes Mal. Sie wusste, dass das Gespräch darauf hinauslaufen würde, und das störte ihn. Sara könnte auf dem Ster bebett liegen und nichts davon sagen, nur damit er sich keine Sorgen machte.
Es ging also darum, zwischen den Zeilen zu lesen. Er konnte nicht sagen, wie gut er diese Kunst eigentlich beherrschte, es waren sieben Wochen vergangen, seit sie sich aufgemacht hatte, und bis jetzt war es ihm noch nicht gelungen, irgendwelche finsteren Zeichen zu entdecken. Abgesehen davon, dass er den Verdacht hegte, dass sie in einem Pub arbeitete und nicht in einer Boutique, wie sie behauptete. Sie wohnte in Camden Town. Er plante, sie an einem Wochenende Ende August oder Anfang September zu besuchen, und dann würde er natürlich genauer sehen können, wie es tatsächlich um sie stand.
Und dann zog das schreckliche Bild von ihr durch sein Bewusstsein, wie sie ermordet unter einem Bett
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