Eine geheime Liebe - Roman
Guido hatte Gabriellas Nähe gesucht. Seit ich die beiden einander vorgestellt hatte - mindestens vierzig Jahre muss das schon her sein -, bestand eine große Vertrautheit zwischen ihnen. Sie waren sich sehr ähnlich in ihrer Lebenslust und ihrem Pflichtgefühl. Und sie ergänzten sich. Federico, der einzige und über alles geliebte Sohn meiner besten Freundin, stützte seinen Ellbogen auf den Sessel seiner Mutter, als wollte er sie vor unangenehmen Überraschungen bewahren. Ich lächelte freundlich ins Parkett und gab wie ein erfahrener Bühnenmeister das Zeichen für den Beginn von Die Schöne und das Biest .
In einem Anflug von Ehrlichkeit gestanden meine Enkel, dass sie die Geschichte gewählt hatten, weil sie als Einzige drei gleichberechtigte Darsteller erforderte. Ich vermutete andere Gründe dahinter, nahm diese Spekulationen aber wie immer auf meine eigene Kappe. Wie bei dem Biest in der Geschichte war immer irgendetwas an mir gewesen, das mich von vornherein nicht normal sein ließ. Daher hatte ich ihnen beigebracht, den Menschen, die ihnen merkwürdig, unnormal, extrovertiert oder rebellisch vorkamen, mit einer gewissen Nachsicht zu begegnen. Jetzt erzählten sie eine Geschichte vom Anderssein, die es verlangte, nicht nur auf Äußerlichkeiten zu schauen. Luca und Francesco, Mattias Söhne, kehrten den Cousinen gegenüber ihren unbedeutenden Altersvorsprung heraus. Ihr kurzes Leben zählte acht und zehn Jahre, gerade genug, um sich von den eifrigen
Zwillingen abzuheben. Später berichteten sie mir, dass die Rolle der Schönen nach endlosen Diskussionen ausgelost werden musste. Luca hatte sich die Rolle des Biestes ausgesucht. Wie sein Vater war er begeisterungsfähig, und die Vorstellung, ein echtes Monster zu spielen, hatte es ihm schon beim ersten Lesen angetan. Francesco, mein sanfter, nachgiebiger Enkel, der sich einer mediterranen Schönheit erfreute - niemand in der Familie hatte so dunkle Augen wie er -, spielte den Vater und fügte sich hingebungsvoll in die Rolle des Erstgeborenen. Das Publikum hatte eine Besetzungsliste: Die Schöne (Marta), das Biest (Luca), der Vater (Francesco), die Erzählerin (Giulia). Von einer Mutter keine Spur. War das Absicht?
Auf der Eintrittskarte, die uns gegen einen bescheidenen Obulus ausgehändigt worden war, stand groß: »Darbietung zu Ehren der Großmutter«. Darunter eine deutliche und schreckliche Zahl: 74. Mein Alter. Das mir das Recht verlieh, in einem hochherrschaftlichen Sessel mitten im Raum zu sitzen. Ich liebte sie, aber es war nicht länger eine Gewohnheit, die sich mit Schuldgefühlen verband. Eine gute halbe Stunde verging, bis ich merkte, dass ich von meinen Kindern des Öfteren mit liebevollen Blicken bedacht wurde. Sicher beschäftigte sie der Gedanke, dass ich bald schon nicht mehr da sein könnte. Ob sie den Countdown bereits begonnen hatten? Und wie würden sie sich an mich erinnern? Während sich mein Kopf mit unverschämten und unaussprechlichen Gedanken füllte, beschloss Giulia ihre ersten Erfahrungen als Erzählerin mit den Worten, dass »sich
das Monster in einen schönen Prinzen verwandelte und die Schöne heiratete. Dann lebten sie glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.« Nachdem er die furchterregenden Gewänder des einfühlsamen Tiers ausgezogen hatte, war Luca wieder als mein Lieblingsenkel zu erkennen, und das gerührte und amüsierte Publikum brach in tosenden Applaus aus. Mein tränenüberströmtes Gesicht erregte weder Erstaunen noch Besorgnis. Nur Gabriella drückte mich an sich und wünschte mir alles Gute zum Geburtstag.
Annette kam es zu, ein wenig Ruhe ins allgemeine Durcheinander zu bringen. Mit durchdringender Stimme übertrumpfte sie unser Geschrei und verkündete, dass der Tisch gedeckt sei. Die unnatürliche Stille, die sich plötzlich im Zimmer ausbreitete, dauerte wenige, unendliche Sekunden lang, dann erhoben sich einstimmig, aber in unterschiedlicher Lautstärke die Stimmen der Versammelten zu einem schrägen »Happy Birthday«. Ich sah wie eine glückliche Großmutter aus.
Der ovale Tisch war elegant und prachtvoll hergerichtet. Die Teller mit dem roten Rand standen auf der Tischdecke aus alter Spitze. Die Kleinen hatten einen Tisch für sich, an dem sie sich lärmend versammelten, nachdem sie in Jeans und langen, schlabbrigen Pullovern in grellen Farben wieder aufgetaucht waren. In den Augen einer jeden Mutter wäre diese Aufmachung eher etwas für Gartenarbeit gewesen, aber niemand sagte etwas,
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