Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
Vom Netzwerk:
wütende Brüllen der lebendigen See. Aber noch der tiefe Graben, die einzelne Zugbrücke, das dicke Gemäuer und die acht festen Türme; Defarge von der Weinschenke noch immer an seiner Kanone, und die Kanone doppelt heiß nach einem Dienst von vier heißen Stunden.
    Eine weiße Fahne aus dem Innern der Festung und Unterhandlung – man bemerkte dies nur undeutlich im tobenden Sturm, und von Hören war nicht die Rede. Plötzlich hob sich die See unermeßlich weiter und höher und fegte Defarge von der Weinschenke über die niedergelassene Zugbrücke hin, an dem dicken steinernen Außengemäuer vorbei und hinein zwischen die übergebenen acht festen Türme.
    So unwiderstehlich war die Gewalt des Meeres, von dem er getragen wurde, daß er, als kämpfe er mit einer Brandung der Südsee, nicht zu atmen und den Kopf nicht umzuwenden vermochte, bis er im äußeren Hofe der Bastille gelandet war. Hier hielt er sich an einer Mauerecke und versuchte umherzuschauen. Jacques drei war in seiner Nähe. Madame Defarge, noch immer an der Spitze von einigen Weibern, befand sich, das Messer schwingend, weiter ab, gleichfalls im Innern. Überall war Tumult, Jubel, betäubende und tolle Verwirrung, wahnsinniger Lärm und wütendes Gebärdenspiel.
    »Die Gefangenen!«
    »Die Listen!«
    »Die geheimen Kerker!«
    »Die Folterwerkzeuge!«
    »Die Gefangenen!«
    Unter all diesen Rufen und zehntausend anderen, die man nicht verstand, wurde der Ruf nach den Gefangenen vorzugsweise aufgegriffen von der See, die hineinrauschte, als sei die Menschenmenge so endlos wie Zeit und Raum. Als die vordersten Wogen vorbeirollten, die Gefängnisbeamten mit sich führten und sie mit augenblicklichem Tode bedrohten, wenn sie nicht auch über den verborgensten Winkel Aufschluß gäben, faßte Defarge mit starker Faust einen dieser Männer, einen Graukopf, der eine brennende Fackel in der Hand trug, an der Brust, riß ihn beiseite und brachte ihn zwischen sich und die Mauer.
    »Zeig mir den Nordturm!« sagte Defarge. »Hurtig!«
    »Recht gern«, versetzte der Mann, »wenn Ihr mit mir kommen wollt. Aber es ist niemand dort.«
    »Was hat einhundertundfünf, Nordturm, zu bedeuten?« fragte Defarge. »Nun, wird's bald?«
    »Was es zu bedeuten hat, Herr?«
    »Ist's ein Gefangener, eine Gefängnisnummer, oder will es so viel besagen, daß ich Euch den Schädel einschlagen soll?«
    »Nieder mit ihm!« krächzte Jacques drei, der gleichfalls herangekommen war.
    »Monsieur, es ist eine Zelle.«
    »Zeigt sie mir.«
    »So folgt mir.«
    Jacques drei, mit seiner gewöhnlichen Hungermiene, den es augenscheinlich verdroß, daß das Zwiegespräch nicht, wie es den Anschein gehabt, mit einem Blutvergießen endete, faßte Defarge am Arm, als dieser den Schließer festhielt. Sie hatten während des kurzen Gespräches die Köpfe ganz nahe zusammenstecken müssen, um sich verstehen zu können: so furchtbar war das Getöse des lebenden Meeres bei seinem Eindringen in die Festung und bei seinem Überfluten der Höfe, Gän
ge und Treppen. Und auch draußen schlug es gegen die Mauern mit heiserem Gebrüll, aus dem hin und wieder tumultuarische Einzelrufe wie leichter Schaum gen Himmel spritzten.
    Durch finstere Gewölbe, die nie das Licht der Sonne erleuchtet hatte, vorbei an greulichen Türen zu dunklen Löchern und Käfigen, ausgetretene Treppenfluchten hinab und wieder aufwärts auf steilen, verwitterten Stein- oder Ziegeltreppen, die man mit trockengelegten Wasserfallbetten vergleichen konnte, eilten die drei aneinandergeklammerten Männer, Defarge, der Schließer und Jacques drei, dahin, so schnell es nur gehen mochte. Hin und wieder, namentlich anfangs, faßte sie die Flut und riß sie mit sich fort; als es aber mit dem Abwärtssteigen ein Ende hatte und das Klettern im Turme begann, waren sie allein. Durch die dicken Mauern und Gewölbe vernahmen sie den Sturm, der in und außerhalb der Feste wütete, nur noch wie ein dumpfes Getöse, als seien sie durch den Lärm, aus dem sie kamen, taub geworden.
    Der Schließer machte vor einer niederen Tür halt, steckte einen Schlüssel in ein klirrendes Schloß, öffnete langsam und sagte, als sie mit gebeugten Köpfen hineingingen:
    »Hundertundfünf, Nordturm.«
    Hoch in der Wand befand sich eine kleine, stark vergitterte Fensteröffnung ohne Scheiben und davor ein steinerner Schirm, so daß man den Himmel nur sehen konnte, wenn man sich tief niederduckte und aufwärts schaute. Ein kleiner, mit schweren Querstangen geschützter Kamin

Weitere Kostenlose Bücher