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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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habe es Lucie im voraus gesagt. – Was ist denn das für ein Getöse?«
    Seine Hand machte sich aufs neue an dem Fenster zu schaffen.
    »Schaut nicht hinaus!« rief Mr. Lorry in heller Verzweiflung. »Nein, Lucie, meine Liebe, auch Ihr nicht!« Er umschlang sie mit den Armen und hielt sie zurück. »Erschreckt nicht so, meine Liebe; ich schwöre Euch feierlich, daß mir nichts von einem Unglück bekannt ist, das Charles betroffen haben könnte. Ja, ich hatte nicht einmal eine Ahnung, daß er sich in dieser unseligen Stadt befindet. In welchem Gefängnis ist er?«
    »In La Force!«
    »In La Force! Lucie, mein Kind, wenn Ihr je in Eurem Leben wacker und zu etwas brauchbar gewesen seid – und Ihr waret das ja immer –, so nehmt Euch jetzt zusammen und
tut genau, was ich Euch heiße; denn es hängt mehr davon ab, als Ihr denkt oder ich Euch sagen kann. Heute abend kann ich Euch unmöglich aus dem Hause lassen, da alles, was Ihr jetzt auch tun mögt, zu nichts führen würde. Ich muß Euch dies um Charles' willen befehlen, obwohl ich weiß, daß es das Schwerste ist, was man von Euch verlangen kann. Aber vorderhand müßt Ihr gehorsam, still und ruhig sein und mir erlauben, daß ich Euch in einem der hinteren Zimmer verberge. Ich wünsche, ein paar Minuten mit Eurem Vater allein zu sein, und da sich's dabei um Leben und Tod handeln kann, so muß es sogleich geschehen.«
    »Ich will gern alles tun, was Ihr verlangt. Ich sehe in Eurem Gesicht, daß Ihr wohl wißt, daß ich nicht anders kann, da ich ja Euer treues Herz kenne.«
    Der alte Mann küßte sie, schob sie in sein Zimmer und drehte den Schlüssel um; dann kam er hastig zurück, öffnete das Fenster und teilweise die Jalousie, legte die Hand auf den Arm des Doktors und sah mit ihm in den Hof hinunter.
    Da war ein Gedränge von Männern und Weibern, nicht sehr zahlreich, aber doch nahezu genug, um den Hof zu füllen; es mochten im ganzen vierzig oder fünfzig Köpfe sein. Die Leute, die im Besitz des Hauses waren, hatten sie durchs Tor hereingelassen, und sie eilten zur Arbeit an den Schleifstein, der wahrscheinlich da aufgestellt worden war, weil man den Platz für bequem und abgeschieden gehalten.
    Aber welch schreckliche Arbeiter! welch schreckliche Arbeit!
    Der Schleifstein hatte eine doppelte Kurbel, an der sich wie toll ein paar Männer abmühten, deren Gesichter, wenn bei ihrem jeweiligen Auftauchen das lange Haar zurückschlug, schrecklicher und grausamer sich ausnahmen als die Gesichter der wildesten Wilden in ihrem schrecklichsten Kriegsschmuck. Falsche Augenbrauen und falsche Schnurrbärte klebten dar
an; die gräßlichen Fratzen troffen von Blut und Schweiß, waren verzerrt vom Brüllen und glühten und glotzten von bestialischer Aufregung und Mangel an Schlaf. Während die Wüteriche drehten und drehten, fielen die verfilzten Haare bald über die Augen nieder, bald auf den Nacken zurück. Weiber standen daneben und hielten ihnen zum Trinken Wein an den Mund; und unter dem niederträufelnden Blut, dem niederträufelnden Wein und den Funken, die dem Stein entsprühten, schien die ganze entsetzliche Atmosphäre nur aus Blut und Feuer zu bestehen. In der ganzen Gruppe konnte das Auge kein Gesicht entdecken, das nicht dieselbe gräßliche Bemalung gezeigt hätte. Bis zum Gürtel nackte Männer, die sich wechselseitig gegen den Schleifstein hindrängten, trugen Blutmale über den ganzen Leib und alle Glieder; andere zeigten in den elenden Lumpen ihrer Bekleidung überall Blut und Blut, und wieder andere hatten sich greulich mit geraubten Weiberkleidern, Spitzen und Bändern herausgeputzt, die durch und durch von Blut starrten. Auch die Äxte, die Messer, die Bajonette, die Säbel, die man zum Schärfen herbrachte, waren davon gerötet. Einige der schartigen Säbel staken an der Seite ihrer Eigentümer in Gurten von Stricken, Leinwandbinden oder abgerissenen Kleiderstreifen – Gürtel der verschiedensten Art, aber alle in demselben Bade gefärbt. Und während die Träger dieser Waffen sie zurückrissen aus dem Funkenstrom und hinausstürzten auf die Straßen, glühte es von demselben Rot in ihren wahnsinnigen Augen.
    Alles dies wurde geschaut in einem Augenblick, wie etwa die Vision eines Ertrinkenden oder irgendeines menschlichen Wesens im Augenblick der Gefahr eine Welt umfassen würde, die sich ihm darböte. Sie traten vom Fenster zurück, und der Doktor blickte fragend seinem Freund in das aschfahle Gesicht.
    »Sie ermorden die Gefangenen«, flüsterte

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