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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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und fuhr nach einer Pause fort:
    »Ich möchte Euch noch fragen, ob Euch Eure Kindheit sehr fern zu liegen scheint. Kommt Euch die Zeit sehr lang vor zwischen heute und damals, als Ihr Euch noch in den Schoß der Mutter schmiegtet?«
    Dieser weicheren Stimmung entsprechend, antwortete Mr. Lorry:
    »Vor zwanzig Jahren, ja; aber jetzt nicht mehr. Denn man wandert in einem Kreise, und je näher und näher es dem Ende zu geht, desto näher und näher rückt man wieder dem Anfang
zu. Auf solche Weise wird uns der Weg sanft und eben gemacht. Mein Herz fühlt sich oft bewegt bei Erinnerungen, die lange geschlafen haben; wenn ich zum Beispiel, der ich so alt bin, meiner hübschen jungen Mutter gedenke und mir die Tage vergegenwärtige, in denen das, was wir Welt nennen, nicht so sehr in mir zur Wirklichkeit geworden und meine Fehler nicht so starr mit mir verwachsen waren.«
    »Ich verstehe dies Gefühl!« rief Carton, und eine lebhafte Glut überflog sein Antlitz. »Und Ihr empfindet dabei eine sittliche Erhebung?«
    »Ich hoffe.«
    Carton brach das Gespräch jetzt ab und stand auf, um dem alten Mann in seinen Überrock zu helfen.
    »Aber Ihr«, sagte Mr. Lorry, auf den Gegenstand zurückkommend, »Ihr seid jung.«
    »Ja«, versetzte Carton. »Ich bin nicht alt; aber der Weg meiner Jugend war nicht der Weg zum Alter. Genug von mir!«
    »Und von mir wahrhaftig auch«, sagte Mr. Lorry. »Wollt Ihr ausgehen?«
    »Ich werde Euch bis an ihre Haustür begleiten. Ihr kennt meine unstete, unruhige Lebensweise. Laßt's Euch nicht anfechten, wenn ich lange in den Straßen herumstreiche; ich werde morgen schon wieder zum Vorschein kommen. Seid Ihr morgen in der Gerichtshalle.«
    »Ja, leider.«
    »Ich werde auch dort sein, aber nur im Gedränge der Zuschauer. Mein Spion wird schon einen Platz für mich auftreiben. Nehmt meinen Arm, Sir!«
    Mr. Lorry entsprach der Aufforderung, und sie gingen miteinander die Treppen hinunter und auf die Straße hinaus. Nach einigen Minuten hatten sie Lorrys Bestimmungsort erreicht. Carton verließ jetzt seinen Begleiter, zögerte aber in einiger
Entfernung, kehrte zu dem geschlossenen Tor zurück und berührte den Griff.
    »Hier ist sie herausgekommen«, sagte er umherschauend, »und diesen Weg hat sie eingeschlagen. Sie muß diese Steine oft betreten haben; ich will ihren Fußstapfen folgen.« Es war nachts zehn Uhr, als er vor dem Gefängnis La Force an der Stelle stand, wo sie hundertmal gestanden hatte. Ein kleiner Holzhacker, der seinen Schuppen geschlossen hatte, stand rauchend vor seiner Haustür. »Guten Abend, Bürger«, sagte Sydney Carton, denn der Mann betrachtete ihn neugierig.
    »Guten Abend, Bürger.«
    »Was macht die Republik?«
    »Ihr meint die Guillotine? Die macht's nicht übel. Dreiundsechzig heute. Wir werden bald zum Hundert aufsteigen. Samson und seine Leute beklagen sich bisweilen über zuviel Arbeit. Hahaha! Er ist so drollig, dieser Samson. Welch ein Barbier!«
    »Seht Ihr ihn oft …«
    »Rasieren? Immer. Jeden Tag. Der kann's. Habt Ihr ihn noch nicht arbeiten sehen?«
    »Nein.«
    »So geht hin und seht zu, wenn er einen ordentlichen Haufen zu bedienen hat. Macht Euch eine Vorstellung davon, Bürger: Er rasierte heute die dreiundsechzig in weniger als zwei Pfeifen. In weniger als zwei Pfeifen – auf Ehre.«
    Als das grinsende Männlein die Pfeife, die er eben rauchte, ausstreckte, um zu erklären, wie er die Zeit der Hinrichtungen maß, hätte ihn Carton in seiner Entrüstung gern tot niedergestreckt. Er wandte ihm den Rücken zu.
    »Aber Ihr seid kein Engländer, obschon Ihr einen englischen Anzug tragt?« sagte der Holzhacker.
    »Doch«, antwortete Carton über seine Schulter zurück.
    »Ihr sprecht wie ein Franzose.«
    »Ich habe hier studiert.«
    »Aha! Ein vollkommener Franzose. Gute Nacht, Engländer.«
    »Gute Nacht, Bürger.«
    »Aber vergeßt nicht, hinzugehen und den possierlichen Kerl anzusehen«, rief ihm der kleine Mann nach. »Nehmt auch eine Pfeife mit.«
    Sobald Sydney ihn aus dem Gesicht verloren hatte, machte er in der Mitte der Straße unter einer flimmernden Laterne halt und schrieb mit dem Bleistift etwas auf einen Zettel. Dann ging er mit dem sicheren Schritt eines Menschen, der seinen Weg gut kennt, durch verschiedene dunkle und schmutzige Gassen – sie waren schmutziger als früher, denn selbst die Hauptstraßen blieben in jenen Schreckenstagen ungereinigt – und machte vor einem Apothekerladen halt, den der Inhaber eben eigenhändig abschließen

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