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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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wollte. Es war ein kleiner, finsterer, winkliger Laden, der in einem krumm und aufwärts verlaufenden Bogengange stak, und die Figur des Apothekers stand ganz im Einklang mit seinem Geschäftslokal.
    Carton wünschte auch diesem Bürger einen guten Abend und legte seinen Zettel auf den Ladentisch.
    »Hei!« sagte der Apotheker und pfiffleise vor sich hin, als er das Blättchen las. »Hihihi!«
    Sydney Carton achtete nicht darauf. Der Apotheker fragte:
    »Für Euch, Bürger?«
    »Ja.«
    »Ihr werdet aber die Ingredienzien sorgfältig geschieden halten, Bürger? Ihr kennt die Folgen, wenn man sie untereinanderbringt?«
    »Vollkommen.«
    Es wurden einige kleine Pakete gemacht und ihm übergeben. Er steckte eines nach dem anderen in die Brusttasche
seines inneren Rocks, beglich die Forderung des Apothekers und verließ bedächtig den Laden.
    »Vor morgen gibt es nichts mehr zu tun«, sagte er, zum Mond aufblickend. »Aber ich kann nicht schlafen.«
    Diese Worte, die er unter den schnell segelnden Wolken laut vor sich hin sprach, trugen nicht den Ausdruck eines unbekümmerten oder verdrossenen Wesens, sondern klangen so entschieden, als kämen sie aus dem Mund eines Mannes, der lange irre gegangen ist, endlich aber seinen Weg wieder gefunden hat und dessen Ende erkennt.
    Vor langer Zeit – er zeichnete sich damals noch als hoffnungsvoller Jüngling unter seinen Altersgenossen aus – war er seinem Vater zu Grabe gefolgt. Seine Mutter hatte schon einige Jahre früher das Zeitliche gesegnet. Die feierlichen Worte, die bei der Bestattung seines Vaters verlesen wurden, tauchten in seinem Geist wieder auf, während er, den Mond und die segelnden Wolken hoch über sich, im nächtlichen Schatten die dunklen Straßen entlangging. ›Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr. Wer an mich glaubt, wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer lebet und an mich glaubt, wird nimmermehr sterben.‹
    In einer vom Beile beherrschten Stadt, in der Einsamkeit der Nacht, im schmerzlichen Gedenken an die dreiundsechzig im Laufe eines Tages verbluteten und im Hinblick auf die in den Gefängnissen schmachtenden Opfer, die morgen, übermorgen und so fort ihr Urteil erwarteten, war die Gedankenkette, die jene Worte wie einen rostigen alten Schiffsanker aus der Tiefe herausholte, leicht gefunden. Er hatte sie nicht gesucht, sprach sie aber vor sich hin, als er seiner Wege ging.
    Mit einer ernsten Teilnahme für die beleuchteten Fenster, hinter denen Menschen sich zur Ruhe niederlegten, um auf einige Stunden die Schrecken ihrer Umgebung zu vergessen –,
für die Türme der Kirchen, in denen keine Gebete mehr gen Himmel stiegen, denn das Volk war nach dem langen Druck und Trug auch für das Heilige erstorben –, für die fernen Friedhöfe, die, wie die Aufschriften an ihren Toren sagten, nur noch dem ewigen Schlafe dienen sollten –, für die überfüllten Gefängnisse und für die Straßen, durch die man zu sechzig einem Tode entgegenfuhr, der so alltäglich und materiell geworden war, daß aus all dem Arbeiten der Guillotine nicht einmal ein Schauergeschichtchen von einem spukenden Geiste mehr auftauchen mochte –, kurz, mit einer ernsten, feierlichen Teilnahme für das ganze Leben und Sterben in der Stadt, in deren Wut die Nacht eine kurze Pause machte, ging Sydney Carton wieder über die Seine den helleren Straßen zu.
    Es ließen sich nur wenige Kutschen blicken; denn die Benutzung von Kutschen machte verdächtig, und die Vornehmen zogen rote Mützen über ihre Ohren und trabten in groben Schuhen zu Fuß ihrer Wege. Aber die Theater waren gefüllt, und als er vorbeiging, strömte das Volk lustig heraus und begab sich unter Plaudern nach Hause. An einer der Theatertüren stand ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter und sah sich nach einer leidlichen Übergangsstelle auf der schmutzigen Straße um. Er trug das Kind hinüber und ließ sich von ihm, ehe der schüchterne Arm sich von seinem Nacken losmachte, einen Kuß geben.
    ›Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer lebt und an mich glaubt, der wird nimmermehr sterben.‹
    Die Straßen waren jetzt still, die Nacht rückte vor, und er vernahm die Worte in der Luft, in dem Echo seiner Füße. Vollkommen fest und ruhig lieh er ihnen bisweilen selbst einen Laut, indem er sie beim Gehen vor sich hin sprach; aber in seinen Ohren klangen sie stetig.
    Auch die Nacht nahm ein Ende, und als er auf der Brücke

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