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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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meinen Vater weinen sähe, und vermöchte Euer Leid nicht mehr zu achten, selbst wenn Ihr mein Vater
wäret. Nun, dieses Unglück wenigstens lastet nicht auf Euch.« Obgleich er die letzten Worte mit einem Anflug seiner gewöhnlichen Tonart sprach, so lag doch in seiner ganzen Rede so viel echtes Gefühl und eine solche Ehrerbietung, daß Mr. Lorry, der ihn nie von seiner besseren Seite gekannt hatte, davon betroffen wurde. Er gab ihm die Hand, und Carton drückte sie sanft.
    »Um auf den armen Darnay zurückzukommen«, sagte Carton. »Ihr müßt gegen sie nichts von dieser Begegnung und unserer Übereinkunft verlauten lassen, weil sie selbst ihn doch nicht besuchen dürfte. Sie könnte auch meinen, man wolle ihm so im schlimmsten Falle ein Mittel liefern, um dem Urteilsspruch zuvorzukommen.«
    Lorry hatte daran nicht gedacht und blickte rasch auf Garton, um zu sehen, ob er auch wirklich bei Sinnen sei. Carton erwiderte den Blick, den er zu verstehen schien.
    »Sie könnte auf tausenderlei Gedanken kommen«, fuhr Carton fort, »und damit nur ihren Jammer vergrößern. Sagt ihr daher nichts von mir. Wie ich schon bei meiner Ankunft bemerkte: Es ist besser, wenn ich ihr nicht begegne, denn ich kann ihr auch so die bescheidene Hilfe leisten, die in meinen Kräften steht. Ihr geht hoffentlich zu ihr? Sie muß heute abend ganz trostlos sein.«
    »Ja; ich bin eben im Begriff.«
    »Das freut mich. Sie hat eine so große Anhänglichkeit an Euch und erkennt in Euch eine Stütze. Wie sieht sie aus?«
    »Bekümmert und unglücklich, aber sehr schön.«
    »Ah!«
    Es war ein langer, schmerzlicher Ton wie ein Seufzer – fast wie ein Schluchzen. Lorry blickte wieder auf Carton, dessen Gesicht dem Feuer zugekehrt war. Ein Licht oder ein Schatten (der alte Gentleman vermochte es nicht zu unterscheiden) flog
so rasch darüber hin, wie an einem stürmischen und schönen Tag ein zwischen Wolken hervorbrechender Strahl die Bergwand streift, und er hob den Fuß, um eines der flammenden Scheitchen zurückzuschieben, das niederfallen wollte. Er trug den damals modischen weißen Reitrock und Stulpenstiefel, und im Widerschein des Feuers sah sein Antlitz unter dem langen, wild niederhängenden braunen Haar ungemein blaß aus. Dabei kümmerte er sich so wenig um das Feuer, daß Mr. Lorry warnte; denn sein Stiefel ruhte noch auf der Glut des brennenden Scheites, nachdem es unter dem Gewicht seines Fußes schon zusammengebrochen war.
    »Ich vergaß es«, sagte er.
    Mr. Lorry blickte wieder in sein Gesicht. Das verstörte Wesen, das seine von Natur aus schönen Züge umwölkte, erinnerte ihn aufs lebhafteste an den Gefangenen, mit dem sein Gast wieder eine merkwürdige Ähnlichkeit hatte.
    »Ihr seid jetzt mit Euren Geschäften hier zu Ende?« fragte Carton.
    »Ja. Wie ich Euch gestern abend sagte, als Lucie so unverhofft hierherkam, ist endlich alles geschehen, was sich hier tun ließ. Ich hoffte, sie in Sicherheit zurücklassen zu können, wenn ich nach London heimkehre. Mein Paß ist bereits fertig, und ich war zum Aufbruch bereit.«
    Beide schwiegen eine Weile.
    »Ihr könnt auf eine schöne Reihe von Jahren zurückschauen?« sagte Carton gedankenvoll.
    »Ich stehe im achtundsiebzigsten.«
    »Und seid Euer ganzes Leben über nützlich gewesen, stets beschäftigt, geachtet, ein Mann des Vertrauens?«
    »Ich war Geschäftsmann von der Zeit an, da ich mich als Mann fühlte – ja ich könnte fast sagen, von meinen Knabenjahren an.«
    »Seht, welch einen Platz Ihr einnehmt im achtundsiebzigsten Jahr. Wie viele Leute werden Euch vermissen, wenn Ihr ihn räumt!«
    »Ein unverheirateter alter Mann«, entgegnete Mr. Lorry, den Kopf schüttelnd. »Mir weint niemand nach.«
    »Wie könnt Ihr so reden? Wird nicht sie um Euch weinen? Wird es nicht ihr Kind tun?«
    »Ja, ja, Gott sei Dank! Ich habe es nicht ganz so gemeint, wie ich es sagte.«
    »Das ist wohl etwas, wofür man Gott dankbar sein darf; meint Ihr nicht?«
    »Gewiß, gewiß.«
    »Wenn Ihr heute abend in Wahrheit zu Eurem einsamen Herzen sagen müßtet: ›Ich habe mir von keinem menschlichen Wesen Liebe und Anhänglichkeit, Dank oder Achtung erworben; ich habe in keinem Herzen Eingang gewonnen und nie etwas Gutes oder Nützliches getan, um dessentwillen man meiner gedenken möchte‹, meint Ihr nicht, daß Euch dann Eure achtundsiebzig Jahre achtundsiebzig schwere Flüche wären?«
    »Ihr habt recht, Mr. Carton; ich glaube, sie wären mir's.«
    Sydney wandte seine Blicke wieder dem Feuer zu

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