Eine Geschichte aus zwei Städten
Minuten verlassen, um der Verabredung gemäß hierherzukommen. Ihr Vater war, seit er um vier Uhr von dem Bankhaus fortging, noch immer ausgeblieben. Sie hegte eine gewisse, wenn auch nur sehr schwache Hoffnung, daß es ihm gelingen könnte, ihren Charles zu retten. Er war schon mehr als fünf Stunden fort; wo mochte er nur bleiben?
Mr. Lorry wartete bis zehn; da aber Doktor Manette nicht zurückkehrte und er Lucie nicht länger allein lassen wollte, so kamen sie überein, daß er zu ihr gehen und gegen Mitternacht wieder in das Bankhaus kommen solle. Mittlerweile gedachte Carton beim Feuer sitzen zu bleiben und auf den Doktor zu warten.
Er wartete und wartete, und als es zwölf schlug, war immer noch kein Doktor Manette da. Mr. Lorry kam wieder, traf aber alles, wie er es verlassen hatte, ohne selbst eine Neuigkeit mitzubringen. Wo blieb der Doktor?
Sie besprachen miteinander diese Frage und bauten auf seine verzögerte Rückkehr fast ein schwaches Hoffnungsgebäude, als sie ihn endlich auf der Treppe hörten. Als er aber in das Zimmer eintrat, bewies der erste Blick, daß alles verloren sei.
Ob er wirklich bei jemand gewesen war oder ob er den ganzen Abend die Straßen durchstreift hatte, ist niemals ermittelt worden. Während er so dastand und sie mit großen Augen anstarrte, wagten sie keine Frage an ihn zu richten; denn sein Gesicht sagte ihnen alles.
»Ich kann sie nicht finden«, sagte er, »und ich muß sie haben. Wo ist sie?«
Sein Kopf und sein Hals waren bloß, und seine Worte klangen wie die eines Mannes, der sich nicht zu helfen weiß. Er zog seinen Rock aus und ließ ihn zu Boden fallen.
»Wo ist meine Werkbank? Ich habe mich überall nach meiner Werkbank umgesehen und kann sie nicht finden. Was hat man mit meiner Arbeit angefangen? Die Zeit drängt; ich muß die Schuhe fertigbringen.«
Sie sahen einander trostlos an.
»Oh, oh!« rief er in kläglich wimmerndem Tone, »laßt mich an meine Arbeit – gebt mir meine Arbeit!«
Da er keine Antwort erhielt, so zerraufte er sich das Haar und stampfte wie ein eigensinniges Kind mit den Füßen auf den Boden.
»Foltert nicht einen armen verlassenen Unglücklichen«, flehte er sie unter kreischendem Geschrei an, »sondern gebt mir meine Arbeit! Was soll aus mir werden, wenn ich nicht heute nacht noch die Schuhe fertigbringe?«
Wieder wirr, völlig wirr!
Es war augenscheinlich so hoffnungslos, ihn durch Vorstellungen wieder zur Vernunft zu bringen, daß beide wie im Einverständnis je eine Hand auf seine Schultern legten und ihn baten, sich vor dem Feuer niederzulassen; sie würden alsbald sein Werkzeug herbeischaffen. Er sank in den Stuhl, stierte in die Asche hinein und vergoß Tränen. Mr. Lorry sah in ihm wieder ganz denselben Mann, den er unter Defarges Obhut in der Dachkammer getroffen hatte, und die Zeit zwischen damals und jetzt kam ihm nur wie ein Traum vor.
Wenn auch dieses Schauspiel des Verfalls beide aufs tiefste erschütterte und erschreckte, so war doch die Zeit nicht geeignet, solchen Erregungen nachzuhängen. Seine verwaiste Tochter, die ihrer letzten Hoffnung und Stütze beraubt war, nahm ihre Teilnahme zu sehr in Anspruch. Sie sahen einander bedeutungsvoll an. Carton war der erste, der das Wort ergriff.
»Die letzte Aussicht, so klein sie auch war, ist dahin. Ja, es wird am besten sein, wenn man ihn zu ihr bringt. Aber wollt
Ihr mir nicht, ehe Ihr geht, noch einen Augenblick ernste Aufmerksamkeit schenken? Fragt nicht, warum ich Euch gewisse Bedingungen mache und mir ihr genaues Einhalten erbitte; ich habe einen Grund – einen guten Grund dazu.«
»Ich zweifle nicht daran«, entgegnete Mr. Lorry. »Sprecht!«
Die Gestalt in dem Sessel zwischen ihnen wiegte sich die ganze Zeit in eintönigem Stöhnen hin und her. Sie sprachen miteinander in einem Ton, wie man ihn nachts beim Wachen in einem Krankenzimmer gewöhnt ist.
Carton beugte sich nieder, um den Rock aufzunehmen, in dem sich seine Füße fast verstrickt hatten. Während er dies tat, fiel ein kleines Taschenbuch, in dem der Doktor seine täglichen Besuche vorzumerken pflegte, auf den Boden. Er nahm es auf; es befand sich ein zusammengelegtes Papier darin.
»Wir sollten es ansehen«, bemerkte er.
Mr. Lorry nickte zustimmend. Carton öffnete es und rief:
»Gott sei Dank!«
»Was ist es?« fragte Lorry hastig.
»Einen Augenblick! Ich werde gleich darauf zurückkommen. Zunächst«, er steckte die Hand in seinen Rock und zog ein ähnliches Papier hervor, »habe ich hier
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