Eine Geschichte aus zwei Städten
an den Doktor.«
»Das ist recht schade«, krächzte Jacques drei mit einem nachdenklichen Kopfschütteln, während seine grausamen Finger sich an seinem hungrigen Munde abarbeiteten; »es gehört sich nicht für einen guten Bürger und ist sehr zu bedauern.«
»Ihr seht, ich für meine Person kümmere mich nicht um diesen Doktor«, sagte Madame. »Was liegt mir daran, ob er seinen Kopf behält oder verliert? Mir ist's gleichgültig. Aber die Evrémondes sollen vertilgt werden, und das Weib mit ihrem Kinde muß dem Mann und Vater folgen.«
»Sie hat einen schönen Kopf dafür«, krächzte Jacques drei. »Ich habe dort schon blaue Augen und goldenes Haar gesehen; sie nahmen sich prächtig aus, als Samson die Köpfe in die Höhe hielt.«
Madame Defarge senkte den Blick und sann eine Weile nach.
»Auch das Kind«, bemerkte Jacques drei mit genießerischer Lust, »hat goldenes Haar und blaue Augen, und wir sehen selten ein Kind dort. Es gibt einen allerliebsten Anblick.«
»Mit einem Wort«, sagte Madame Defarge, sich aus ihrem Nachdenken aufraffend, »ich kann in dieser Sache meinem Manne nicht trauen. Seit gestern abend fühle ich, daß ich ihn nicht nur in die Einzelheiten meiner Pläne nicht einweihen darf, sondern auch, daß jedes Zögern die Gefahr der Warnung an sie in sich schließt und ihr Entkommen begünstigt.«
»Das darf nicht geschehen«, krächzte Jacques drei. »Niemand darf entkommen. Wir haben noch nicht halb genug. Es müssen jeden Tag zehn Dutzend werden.«
»Mit einem Wort«, sprach Madame Defarge weiter, »mein Mann hat nicht meine Gründe, diese Familie bis zur Vernichtung zu verfolgen, und ich wiederum habe keinen Grund, diesen Doktor zu bemitleiden. Ich muß daher für mich handeln. Kommt her, kleiner Bürger!«
Der Holzhacker, der sie hoch in Ehren hielt und aus heller Furcht nur in tiefster Unterwürfigkeit nahte, trat mit seiner roten Mütze in der Hand heran.
»Wir sprechen von den Zeichen, die sie den Gefangenen
gemacht hat, kleiner Bürger«, sagte Madame Defarge streng. »Ihr seid bereit, noch heute Zeugnis gegen sie abzulegen?«
»Ei ja, warum nicht?« versetzte der Holzhacker. »Jeden Tag, bei jedem Wetter von zwei bis vier Uhr; und stets machte sie Zeichen, bisweilen mit der Kleinen, bisweilen ohne sie. Ich weiß, was ich weiß, und hab es mit eigenen Augen gesehen.«
Während seiner Rede machte er Gebärden aller Art, gleichsam in zufälliger Nachahmung einiger der vielen und verschiedenen Signale, die freilich nur in seinem Hirn spukten.
»Das ist offenbar ein Komplott«, sagte Jacques drei. »Nicht anders möglich.«
»Das Schwurgericht wird doch darüber keinen Zweifel hegen?« fragte Madame Defarge, mit einem unheimlichen Lächeln ihre Augen auf ihn heftend.
»Verlaßt Euch auf die patriotischen Geschworenen, meine liebe Bürgerin! Ich stehe für meine Kollegen.«
»Nun, laßt mich sehen«, sagte Madame Defarge, abermals nachdenkend. »Um noch einmal auf diesen Doktor zu kommen – kann ich ihn um meines Mannes willen schonen? Ich habe nichts für und nichts gegen ihn. Kann ich ihn schonen?«
»Er würde doch als ein Kopf zählen«, bemerkte Jacques drei mit gedämpfter Stimme. »Wir haben wahrhaftig nicht Köpfe genug. Es wäre schade, mein ich.«
»Er gab mit ihr Signale, als ich sie sah«, fuhr Madame Defarge fort, »und ich kann nicht von ihr sprechen, ohne auch ihn zu erwähnen. Schweigen darf ich nicht und die Sache ganz diesem kleinen Bürger überlassen, denn ich bin kein schlechter Zeuge.«
Die Rache und Jacques drei wetteiferten miteinander in warmen Versicherungen, daß sie der trefflichste, der bewundernswürdigste Zeuge sei, und der kleine Bürger, der sich von ihnen
nicht überbieten lassen wollte, erklärte sie geradezu für einen himmlischen Zeugen.
»Wir müssen ihn für sich selbst sorgen lassen«, sagte Madame Defarge. »Nein, ich kann ihn nicht schonen. Ihr seid um drei Uhr in Anspruch genommen; Ihr geht doch hin, um heute den Hinrichtungen beizuwohnen – Ihr?«
Diese Frage galt dem kleinen Holzhacker, der hastig mit Ja darauf antwortete und die Gelegenheit benutzte, hinzuzufügen, daß er der eifrigste Republikaner sei und sich wirklich als den unglücklichsten Republikaner fühlen würde, wenn ihn irgend etwas des Vergnügens beraubte, im Anblick des possierlichen Nationalbarbiers seine Nachmittagspfeife zu rauchen. Er benahm sich hierbei so demonstrativ, daß man ihn hätte beargwöhnen können (vielleicht lag auch dieser Sinn in dem
Weitere Kostenlose Bücher