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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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bei allen diesen hastigen Bewegungen und blieben auf ihr haften, als sie fertig war. Miß Proß hatte nichts Schönes an sich; das Wilde und Abenteuerliche ihres Aussehens war durch die Jahre nicht gezähmt oder gemildert worden. Aber auch sie konnte in ih
rer Art als ein entschlossenes Frauenzimmer angesehen werden und maß die andere Zoll für Zoll mit den Augen.
    ›Du magst deinem Aussehen nach Madame Luzifer selber sein‹, sagte Miß Proß für sich; ›aber gleichwohl sollst du mir nichts anhaben können. Ich bin eine Engländerin.‹
    Madame Defarge betrachtete sie verächtlich, aber doch mit einer gewissen Ahnung, daß sie in Miß Proß eine Widersacherin habe. Sie sah dieselbe feste, harte und sehnige Person vor sich wie Mr. Lorry, als er vor Jahren ihre starke Hand zu fühlen bekam, und wußte recht wohl, daß Miß Proß eine aufopferungsfähige Freundin der Familie war, während Miß Proß ihrerseits in dieser Madame Defarge den bösen Engel der Familie erkannte.
    »Auf meinem Wege nach dem Orte«, sagte Madame Defarge mit einer leichten Bewegung der Hand nach der Richtstätte hin, »wo man mir meinen Stuhl und mein Strickzeug aufbewahrt, bin ich heraufgekommen, um ihr meine Aufwartung zu machen. Ich wünsche sie zu sprechen.«
    »Ich weiß, daß Ihr schlimme Absichten habt«, sagte Miß Proß, »und Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß ich ihnen entgegentreten werde.«
    Jede bediente sich ihrer eigenen Sprache, so daß keine die Worte der anderen verstand; aber beide suchten aus Miene und Gebärden zu erkennen, was die andere sagen wollte. »Es wird ihr nichts nützen, wenn sie sich in diesem Augenblick vor mir verbirgt«, fuhr Madame Defarge fort. »Gute Patrioten werden wissen, was das bedeutet. Laßt mich zu ihr. Geht und sagt ihr, daß ich sie zu sprechen wünsche. Hört Ihr?«
    »Wenn diese deine Augen Bohrer wären«, erwiderte Miß Proß, »und ich ein englischer Bettpfosten, so sollten sie doch keinen Splitter aus mir herauskriegen. Nein, du boshaftes fremdes Weibsbild; dir bin ich schon noch gewachsen.«
    Madame Defarge war nicht in der Lage, diese Bemerkungen im einzelnen zu verstehen, entnahm aber doch so viel daraus, daß ihr Wille keine Beachtung fand.
    »Dummes Frauenzimmer«, rief Madame Defarge ärgerlich, »mit dir habe ich nichts zu reden, sie will ich sehen. Sag ihr das entweder oder geh von der Tür weg und mir aus dem Wege, damit ich zu ihr kann.« Sie begleitete diese zornige Anrede mit einer Gebärde ihres rechten Armes.
    »Ich habe nie daran gedacht«, sagte Miß Proß, »daß ich je nötig haben könnte, deine unsinnige Sprache zu verstehen; aber ich gäbe gern alles, was ich habe, die Kleider auf meinem Leibe ausgenommen, dafür, wenn ich wüßte, ob du eine Ahnung hast von der Wahrheit oder einem Teil davon.«
    Sie wandten nicht für Sekunden die Augen voneinander. Madame Defarge war bisher auf derselben Stelle stehengeblieben, auf der Miß Proß sie zuerst erblickt hatte; jetzt aber kam sie einen Schritt näher.
    »Ich bin eine Britin«, sagte Miß Proß, »und in der Verzweiflung zu allem fähig. Ich kümmere mich kein englisches Zweipencestück um mich selbst; und je länger ich dich hier festhalte, desto größere Hoffnung ist für mein Vögelchen vorhanden. Du sollst mir keine Handvoll von deinem schwarzen Haar auf dem Kopf behalten, wenn du mich nur mit einem Finger anrührst.«
    So Miß Proß, die nach jedem Satz den Kopf schüttelte und ihre Augen blitzen ließ, während ihre Atemzüge hastig gingen – dieselbe Miß Proß, die in ihrem ganzen Leben nie einen Schlag ausgeteilt hatte.
    Aber ihr Mut war von so aufgeregter Art, daß er ihr die Tränen unaufhaltsam in die Augen trieb. Einen solchen Mut begriff Madame Defarge so wenig, daß sie ihn irrtümlich für Schwäche nahm. »Haha!« lachte sie, »du erbärmliches Ge
schöpf, was soll ich mich mit dir einlassen? Ich will mich selbst an diesen Doktor wenden.« Dann erhob sie ihre Stimme und rief: »Bürger Doktor! Weib des Evrémonde! Wer mich hört, außer dieser armen Törin, antworte der Bürgerin Defarge!«
    Das nun folgende Schweigen, vielleicht auch ein geheimer Zug in Miß Proß' Gesicht, vielleicht auch nur eine plötzliche Ahnung ohne äußeren Anlaß mochte Madame Defarge auf den Gedanken bringen, daß sie fort seien. Sie öffnete hastig drei von den Türen und sah hinein.
    »Diese Zimmer sind in Unordnung; man hat hier hastig gepackt und es liegt allerlei durcheinander auf dem Boden. In dem Zimmer hinter

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