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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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konnte ihn nicht hören. ›So will ich mit dem Kopfe nicken‹, dachte Mr. Cruncher bestürzt; ›jedenfalls wird sie es sehen.‹ So war es auch.
    »Ist jetzt Lärm in den Straßen?« fragte Miß Proß wieder.
    Und Mr. Cruncher nickte wieder mit dem Kopfe.
    »Ich höre ihn nicht.«
    »Taub geworden in einer Stunde?« sagte Mr. Cruncher verstört vor sich hin. »Was mag ihr geschehen sein?«
    »Ich meine, einen Blitz gesehen und ein Krachen gehört zu haben«, sagte Miß Proß, »und es ist mir, als sei dieses Krachen das letzte gewesen, was ich je in meinem Leben hören soll.«
    »Ich will des Henkers sein, wenn das nicht ein kurioser Zustand ist«, sagte Mr. Cruncher, in dessen Gehirn es immer unklarer wurde. »Hat sie vielleicht etwas zu sich genommen, um die Courage zu behalten? Horch! Da kommen die schrecklichen Karren angerollt! Die könnt Ihr doch hören, Miß?«
    »Ich höre gar nichts«, versetzte Miß Proß, die es seinem Munde absah, daß er sprach. »Oh, mein guter Mann, zuerst kam ein schreckliches Krachen, und darauf folgte eine tiefe Stille; und diese Stille scheint so andauernd und unabänderlich zu sein, als sollte sie nie mehr unterbrochen werden, solange ich lebe.«
    »Wenn sie das Gerassel dieser schrecklichen Karren, die jetzt dem Ende ihrer Fahrt so nahe sind, nicht hört«, sagte Mr. Cruncher über seine Schulter zurücksehend, »so wird sie nach meiner Meinung in dieser Welt nichts anderes mehr hören.«
    Und sie hörte wirklich nichts mehr.
    Fünfzehntes Kapitel
    Die Schritte verhallen für immer
    Durch die Straßen von Paris rasseln die Karren des Todes hohl und hart. Ihrer sechs führen den Wein des Tages nach der Guillotine. Die grausamsten Vorstellungen, die je der Phantasie entsprangen, sind verschmolzen in der einen Wesenheit Guillotine. Und doch konnte selbst in Frankreich, dessen Boden und dessen Klima so viele Möglichkeiten bieten, kein Grashalm, kein Blatt, keine Wurzel, kein Zweig, kein Pfefferkorn sicherer zur Reife kommen als die Saat, die diese Schrecken veranlaßt hat.
    Sechs Karren rollen durch die Straßen. Wandle sie, o mächtige Zauberin Zeit, wieder um in das, was sie waren, und sie stellen sich vielleicht dar als die Prachtwagen absoluter Monarchen, die Karossen großer Herren, die Putztische geschminkter Damen, die Kirchen, die nicht ›meines Vaters Haus‹ sind, sondern Räuberhöhlen, die Hütten von Millionen hungernder Bauern! Nein, die große Zauberin Zeit, durch die der Wille des Schöpfers vollzogen wird, dreht das Rad der Verwandlungen nicht zurück. ›Bist du durch den Willen Gottes in diese Gestalt versetzt‹, sagen die Weisen in Tausendundeiner Nacht zu dem Verzauberten, ›so bleibe darin; trägst du sie aber nur als Folge einer Verschwörung, so nimm dein früheres Aussehen wieder an!‹ Unwandelbar und hoffnungslos rollen die Karren dahin.
    Während die unheimlichen Räder der sechs Todesfuhren sich drehen, scheinen sie eine lange krumme Furche durch die Volksmassen auf den Straßen zu pflügen. Rechts und links werden Gesichterreihen aufgewühlt, und die Pflüge gehen ruhig weiter. Die rechtmäßigen Bewohner der Häuser sind an das Schauspiel so gewöhnt, daß viele Fenster leer stehen oder die
dahinter Sitzenden ihre Handarbeit nicht unterbrechen, während ihre Augen die Gesichter auf den Karren mustern. Hier und da hat ein Hausbesitzer Gäste, die das Schauspiel mit ansehen wollen; er deutet mit der Selbstgefälligkeit des Verantwortlichen oder des Kenners bald auf diesen, bald auf jenen Karren und scheint zu erzählen, wer gestern und wer vorgestern darin gesessen hat.
    Von den Fahrenden blicken einige auf diese Dinge und auf alles, was um sie vorgeht, mit einem teilnahmslosen Starren, während andere noch einiges Interesse für das Leben und Treiben der Menschen verraten. Einige, die mit gesenktem Haupt dasitzen, brüten in stummer Verzweiflung vor sich hin, andere sind auf ihre äußere Erscheinung so sorgfältig bedacht, daß sie der Menge Blicke zuwerfen, wie sie sie selbst auf Bildern und in Theatern gesehen haben. Mehrere schließen die Augen und suchen ihre irren Gedanken zusammenzuhalten. Nur einer, ein kläglich aussehendes Geschöpf, ist so verstört und trunken von Entsetzen, daß er singt und zu tanzen versucht. Aber keiner von ihnen versucht, durch Blick oder Gebärde das Mitleid des Volkes anzurufen.
    Eine Wache von Berittenen zieht den Karren voraus, und oft erheben sich Gesichter zu ihnen und stellen Fragen an sie. Die Fragen

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