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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Euch ist niemand. Laßt mich sehen!«
    »Nein!« rief Miß Proß, die diese Aufforderung so gut verstand wie Madame Defarge ihre Antwort.
    ›Wenn sie sich nicht in diesem Zimmer befinden, sind sie fort und können verfolgt und zurückgebracht werden‹, sagte Madame Defarge zu sich selbst.
    ›Solange du nicht weißt, ob sie in diesem Zimmer sind oder nicht, kannst du nicht handeln‹, lautete das Selbstgespräch der Miß Proß; ›und du sollst mir's nicht erfahren, wenn ich's hindern kann. Aber magst du's nun wissen oder nicht, du kommst mir nicht von der Stelle, solang ich dich zu halten imstande bin.‹
    ›Ich bin vom Anfang an bei den Straßenkämpfen gewesen; nichts hat mich zu hindern vermocht, und ich reiße dich in Stücke, wenn du nicht von dieser Tür weggehst‹, sagte Madame Defarge.
    ›Wir sind allein in dem Giebelstock eines hohen, in einem einsamen Hofe stehenden Hauses, und man wird uns wahrscheinlich nicht hören. O Himmel, gib mir Kraft, sie hier aufzuhalten, denn jede Minute, die ich dich hier habe, ist für meinen Liebling hunderttausend Guineen wert‹, sagte Miß Proß.
    Madame Defarge wollte auf die Tür zu. Miß Proß, die sich instinktartig diese Bewegung deutete, faßte sie plötzlich mit beiden Armen um den Leib und hielt sie fest. Vergeblich kämpfte sich Madame Defarge ab und schlug um sich; Miß Proß umschlang sie noch fester mit der zähen Kraft der Liebe, die immer stärker ist als die des Hasses, und hob sie bei dem Ringen vom Boden auf. Madame Defarge zerschlug ihr mit den Fäusten das Gesicht; aber Miß Proß, die den Kopf senkte, klammerte sich mit der Kraft einer Ertrinkenden fest an ihren Leib.
    Bald hörte übrigens Madame Defarge auf, um sich zu schlagen, und tastete nach ihrem Gürtel.
    »Es ist unter meinem Arm«, sagte Miß Proß mit erstickter Stimme, »und du sollst mir es nicht herausbringen. Ich bin stärker als du, Gott sei Dank, und ich will dich festhalten, bis eine von uns die Besinnung verliert oder tot ist.«
    Madame Defarge fuhr mit der Hand nach ihrem Busen. Miß Proß schaute auf, sah, was da war, und schlug danach. Sie schlug einen Blitz, ein Krachen heraus – und stand allein, von Rauch umhüllt.
    All dies war das Werk einer Sekunde. Als der Rauch sich verzog, herrschte eine schauerliche Stille; er schwebte in die Luft hinaus, als sei er die Seele des wütenden Weibes, dessen Körper leblos am Boden lag.
    Im ersten Schrecken eilte Miß Proß in möglichst großer Entfernung an der Leiche vorbei und die Treppe hinunter, in ein vergebliches Hilfegeschrei ausbrechend. Zum Glück besann sie sich bald auf die Folgen ihres Tuns; sie hielt inne und kehrte zurück. Es war freilich etwas Schreckliches, wieder durch diese Tür hineinzugehen; aber sie tat es dennoch und wagte sich ganz in ihre Nähe, um ihren Hut und andere Dinge, die sie brauchte, zu holen. Sie vollendete auf dem Flur draußen ihren Anzug, schloß die Tür ab und zog den Schlüssel her
aus. Eine kurze Weile setzte sie sich auf der Treppe nieder, um zu Atem zu kommen und ein bißchen zu weinen; dann stand sie wieder auf und eilte davon.
    Zum Glück hatte sie einen Schleier auf ihrem Hut, da sie sonst nicht durch die Straßen gekommen wäre, ohne angehalten zu werden. Ein weiteres Glück war, daß bei ihrem absonderlichen Äußeren die Unordnung nicht so auffiel wie an anderen Frauenspersonen. Sie bedurfte dieser Vorteile recht wohl, denn sie hatte in ihrem Gesicht tiefe Kratzwunden; ihr Haar war zerrauft, und ihre Kleidung, die sie nur hastig und mit unruhiger Hand hatte ordnen können, war zerrissen und zerknüllt.
    Als sie über die Brücke kam, warf sie den abgezogenen Schlüssel in den Fluß. Sie mußte vor dem Dom einige Minuten auf den Wagen warten und quälte sich unterdessen mit Vorstellungen ab, der Schlüssel könnte bereits durch ein Netz aufgefischt und als der rechte erkannt worden sein. Ihre geängstigte Phantasie malte ihr bereits die geöffnete Tür, die Entdeckung der Leiche, ihre Verhaftung am Tor, das Gefängnis und die Anklage auf Mord vor. Während noch solche Gedanken ihrem Gehirn zu schaffen machten, erschien das Gefährt, nahm sie auf und fuhr weiter.
    »Ist Lärm auf den Straßen?« fragte sie ihren Begleiter.
    »Nicht mehr als gewöhnlich«, versetzte Mr. Cruncher und sah sie erstaunt ob dieser Frage und ihrem Äußeren an.
    »Ich kann nichts hören«, fuhr Miß Proß fort. »Was habt Ihr gesagt?«
    Vergeblich wiederholte Mr. Cruncher, was er gesagt hatte. Miß Proß

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