Eine Geschichte aus zwei Städten
Miß Manette, und ich sehe sie … ein Leuchten des Blitzes.« Die letzten Worte fügte er nach einem heftigen Blitzstrahl hinzu, in dessen Licht man ihn, auf den Fenstersims gelehnt, hatte sehen können.
»… und ich höre sie«, fuhr er fort, als das Rollen des Donners aufhörte. »Da kommen sie, rasch, wild und wütend.«
Er hatte damit das Ungestüm des Regens ausmalen wollen, der jetzt so übermächtig geworden war, daß man kaum noch ein Wort verstand. Die Regengüsse wurden von unablässigem Blitzen und Donnergekrach begleitet und ließen erst nach, als gegen Mitternacht der Mond aufging.
Die große Glocke von Saint Paul rief eben ein Uhr in die geklärte Luft hinaus, als Mr. Lorry, von dem hochgestiefelten, mit einer Laterne versehenen Jerry begleitet, den Rückweg nach Clerkenwell antrat. Zwischen Clerkenwell und Soho gab es einige einsame Wegstrecken, und Mr. Lorry, der allen Respekt vor Räubern hatte, mietete Jerry regelmäßig für diesen Abendgang, obschon dieser sonst seinen Dienst um ein paar Stunden früher beenden durfte.
»Was für eine Nacht ist das gewesen, Jerry!« sagte Mr. Lorry. »Fast eine Nacht wie die, in der die Toten wieder aus den Gräbern steigen.«
»Eine solche Nacht habe ich nie gesehen, Herr, und hoffe sie auch nicht zu sehen«, entgegnete Jerry.
»Gute Nacht, Mr. Carton!« sagte der Geschäftsmann. »Gute Nacht, Mr. Darnay! Werden wir wohl je wieder miteinander eine solche Nacht erleben?«
Vielleicht. Vielleicht auch eine große Menschenmenge, die stürmend und tobend auf sie eindringt.
Siebentes Kapitel
Der Herr Marquis in der Stadt
Monseigneur, einer der Mächtigen bei Hofe, hielt zu Paris in seinem prachtvollen Palast seinen vierzehntäglichen Empfang. Monseigneur befand sich in seinem inneren Zimmer, dem Heiligtum der Heiligtümer, zu dem von den äußeren her der Schwarm andächtiger Verehrer wallfahrtete. Monseigneur war im Begriff, Schokolade zu nehmen. Monseigneur konnte ungeheuer viel schlucken, und einige mißgünstige Geister sagten ihm nach, er werde bald sogar mit ganz Frankreich fertig wer
den; aber die Morgenschokolade brachte Monseigneur nicht durch seinen Schlund ohne die Beihilfe von vier starken Männern, den Koch nicht mitgerechnet.
Ja. Vier Männer waren dazu nötig, alle vier funkelnd von prächtiger Vergoldung, deren Anführer nicht ohne wenigstens zwei goldene Uhren in der Tasche hätte leben können, sie mußten nach der vornehmen und schlichten Sitte, die Monseigneur eingeführt hatte, wetteifern, um die glückliche Schokolade zu Monseigneurs Lippen zu führen. Ein Lakai brachte die Schokoladenkanne in die hochheilige Gegenwart, ein zweiter schlug und quirlte die Schokolade mit dem kleinen Instrument, das er für diesen Zweck mit sich führte; ein dritter präsentierte das begünstigte Tellertuch, und ein vierter, der mit den zwei Uhren, schenkte die Schokolade ein. Es war unmöglich für Monseigneur, einen dieser Schokoladebeamten zu missen, um seinen hohen Platz zu behaupten unter dem bewundernden Himmel; ein dunkler Fleck hätte sein Wappenschild verunziert, wenn seine Schokolade unedel nur von drei Mann wäre serviert worden; von nur zweien hätte Monseigneur den Tod gehabt.
Monseigneur war die vergangene Nacht bei einem kleinen Souper gewesen, bei dem die Komödie und die große Oper reizend vertreten gewesen waren. Der gnädige Herr liebte es, an solchen kleinen Abenden mit entzückender Gesellschaft teilzunehmen, und war überhaupt so umgänglich und für Eindrücke empfänglich, daß ihm im ermüdenden Drange der Staatsgeschäfte die Komödie und die große Oper weit höher standen als die Not von ganz Frankreich.
Monseigneur hatte eine wahrhaft adelige Idee vom öffentlichen Geschäftsgang im allgemeinen: er wollte nämlich, daß alles von selber gehe; im Hinblick auf öffentliche Geschäfte im besonderen aber hegte er die gleichfalls echte adelige Idee,
daß alles jenen Weg gehen müsse, der zur Vergrößerung seiner Macht und seines Vermögens beitrug. Eine weitere von seinen recht adeligen Ideen war, daß die Welt im allgemeinen sowohl wie im besonderen nur seinem Behagen zu dienen habe. Sein Wahlspruch lautete mit einer unbedeutenden Variante im persönlichen Fürwort gegenüber dem Original: ›Die Erde und ihre Fülle sind mein, sagt Monseigneur.‹ Monseigneur hatte jedoch allmählich die Entdeckung gemacht, daß sich in seine Angelegenheiten, die eigenen sowohl wie die öffentlichen, auch gemeine Verlegenheiten einschlichen,
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