Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
Vom Netzwerk:
Welt zu bringen – und damit hat man sich den Namen einer Mutter noch nicht verdient –, dem vornehmen Kreise etwas ganz Unbekanntes. Bauernweiber blieben bei ihren ungeleckten Kindern und zogen sie groß; bezaubernde Großmütter aber von sechzig kleideten sich und machten Abendgesellschaften mit, als wenn sie noch zwanzig wären.
    Der Aussatz der Unwahrhaftigkeit entstellte jedes Menschenwesen in der bunten Mischung, die Monseigneur ihre Aufwartung machte. In dem äußersten Zimmer befand sich ein halbes Dutzend von Ausnahmemenschen, die seit ein paar Jahren sich mit der unbestimmten Ahnung trugen, daß der Gang der
Dinge im allgemeinen doch nicht der rechte sei. Um ihn in einer hoffnungsvollen Weise zu bessern, hatte sich die Hälfte dieses halben Dutzends zu der phantastischen Sekte der Konvulsionäre geschlagen, und man ging eben mit sich zu Rat, ob man nicht auf der Stelle schäumen, toben, brüllen und in epileptische Zuckungen verfallen sollte, um so für Monseigneur einen höchst verständlichen Fingerzeig für die Zukunft zu geben. Die übrigen drei neben diesen Derwischen waren zu einer anderen Sekte übergegangen, die die Welt durch törichtes Gefasel über ›das Zentrum der Wahrheit‹ zu bessern beabsichtigte, indem sie behauptete, die Menschheit sei (was allerdings keines Beweises bedurfte) aus diesem Zentrum gewichen, aber noch nicht über die Peripherie hinausgelangt; dies müsse man verhindern oder wohl auch die Zurückführung nach dem Mittelpunkte erwirken durch Fasten und Geisterseherei. Natürlich fand unter diesen ein starker Verkehr mit Geistern statt, der für die Welt wunderbar viel Gutes wirkte, obschon es leider nie bekanntgeworden ist.
    Einen Trost bot wenigstens die Gesellschaft in Monseigneurs prächtigem Palast: man sah überall eine vollkommen tadellose Kleidung. Hätte sich nur ausmachen lassen, daß der Tag des Gerichts nur ein großer Galatag sei, so würde hier gewiß männiglich als für alle Ewigkeit fehlerfrei erfunden worden sein. Das Gekräusel, Gepuder und Aufsteifen des Haares, die feine, künstlich erhaltene und aufgefrischte Gesichtsfarbe, die ritterlich anzusehenden Degen und die Huldigung, die man dem Geruchssinn erwies, mußten zuverlässig alles für immer und immer im besten Gange erhalten. Die feinen Herren von der ausgesuchtesten Bildung trugen kleine Anhängsel, die klimperten, wenn ihre Inhaber sich träge bewegten; die goldenen Fesseln klangen wie kostbare Glöcklein, und dieses Klingeln bildete in Verbindung mit dem Rauschen von Seide, Perkal und
feiner Leinwand in der Luft ein Fächeln, das Saint Antoine und seinen nagenden Hunger weit von hinnen scheuchte.
    Der Aufputz war der einzige unfehlbare Talisman und Zauber, um alle Dinge an ihrem Platz zu erhalten. Jedermann war für einen Ball verkleidet, der nie aufhören sollte. Von dem Palast der Tuilerien an, über Monseigneur und den ganzen Hof, durch die Kammern, die Gerichtsbehörden und die ganze Gesellschaft (die Vogelscheuchen ausgenommen) lief der Kostümball hinab bis zu dem Scharfrichter, der zur Aufrechterhaltung des Zaubers ›frisiert und gepudert, in goldgesticktem Rock, Tanzschuhen und weißseidenen Strümpfen‹ seinen Dienst versehen mußte. Vor Galgen und Rad – das Beil war eine Seltenheit – waltete Monsieur Paris, wie der hauptstädtische Henker von seinen Kollegen in der Provinz nach bischöflichem Vorbild betitelt wurde, in so zierlichem Gewande seines Amtes. Und wer von der Gesellschaft aus Monseigneurs Empfangszimmern in dem Jahre unseres Herrn siebzehnhundertundachtzig konnte für möglich halten, daß ein System je ein Ende nehmen würde, das seine Wurzel in einem frisierten, gepuderten und goldbetreßten Henker mit Tanzschuhen und weißseidenen Strümpfen hatte?
    Nachdem Monseigneur seine vier Mann ihrer Bürde entledigt und seine Schokolade eingenommen hatte, ließ er die Tür des Heiligtums der Heiligtümer öffnen und trat hinaus. Welche Unterwürfigkeit jetzt, welches Katzbuckeln und Wedeln, welche Kriecherei und Erniedrigung! Da beugte man sich körperlich und geistig in einer Ausdehnung, daß nichts mehr für den Himmel übrigblieb – dies vielleicht einer der Gründe, warum ihn die Verehrer Monseigneurs nie behelligten.
    Ein Versprechen dahin, ein Lächeln dorthin entsendend, hier einem glücklichen Sklaven ein Wort zuflüsternd, dort einem andern mit der Hand zuwinkend, schritt Monseigneur leutse
lig durch die Salons bis in die entfernte Region des Zentrums der Wahrheit.

Weitere Kostenlose Bücher