Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
Vom Netzwerk:
Mütze in der Hand, hergebracht, und die anderen Kerle schlossen sich ihm an, um zu sehen und zu hören, in der Art, wie's die Leute auch an den Pariser Brunnen zu halten pflegten.
    »Ich kam auf dem Herweg an dir vorbei?«
    »Monseigneur, es ist wahr; ich hatte auf der Straße die Ehre der Begegnung.«
    »Beim Bergauffahren und auf der Höhe des Berges?«
    »Ja, Monseigneur.«
    »Wonach hast du so aufmerksam geschaut?«
    »Monseigneur, ich schaute nach dem Manne.«
    Er beugte sich ein wenig und deutete mit seiner zerlumpten blauen Mütze unter den Wagen. Alle seine Kameraden beugten sich gleichfalls, um unter den Wagen zu sehen. »Welchen Mann, Schwein? Und warum schautest du nach ihm?«
    »Verzeihung, Monseigneur, er hing in der Kette des Radschuhs.«
    »Wer?« fragte der Reisende.
    »Monseigneur, der Mann.«
    »Hol der Teufel alle diese Dummköpfe! Hast du keinen Namen für diesen Mann? Du kennst alle Leute in der ganzen Gegend. Wer war es?«
    »Monseigneur halten zu Gnaden, er war nicht aus der Gegend. Ich habe ihn mein Lebtag nicht gesehen.«
    »Und er hing in der Kette – erdrosselt?«
    »Mit Euer Gnaden Erlaubnis, das war eben das Wunder, Monseigneur. Sein Kopf hing über – so!«
    Er wandte sich seitwärts gegen den Wagen und kehrte sich zurück, das Gesicht himmelwärts gedreht und den Kopf niederhängend; dann richtete er sich wieder auf, fuchtelte mit seiner Mütze und machte eine Verbeugung.
    »Wie sah er aus?«
    »Monseigneur, er war weißer als ein Müller. Ganz mit Staub bedeckt, weiß wie ein Gespenst und so lang wie ein Gespenst.«
    Die Beschreibung machte ungemeines Aufsehen unter dem kleinen Haufen; aber aller Augen schauten auf Monsieur le Mar
quis. Vielleicht um zu sehen, ob er nicht ein Gespenst auf dem Gewissen hatte.
    »Das hast du wahrhaftig gut gemacht«, sagte der Marquis, der sich glücklicherweise besann, daß ein solcher Wurm ihn nicht aufbringen konnte; »du siehst, wie ein Dieb meinen Wagen begleitet, tust aber dein großes Maul nicht auf. Pah! Schafft ihn beiseite, Monsieur Gabelle.«
    Monsieur Gabelle war der Postmeister und nebenbei Einzieher einer der verschiedenen Steuersorten. Er war mit großer Diensteifrigkeit herausgekommen, um bei dem Verhör mitzuhelfen, und hatte in amtlicher Weise den zu Verhörenden am Wamsärmel festgehalten.
    »Fort jetzt!« sagte Monsieur Gabelle.
    »Versichert Euch des Fremden, wenn er im Dorf eine Nachtherberge sucht, und überzeugt Euch, ob sein Gewerbe ein ehrliches ist, Gabelle.«
    »Monseigneur, es ist mir ungemein schmeichelhaft, dero Befehle ausführen zu dürfen.«
    »Ist er davongelaufen, Kerl? Wo ist der verfluchte Hund?«
    Der verfluchte Hund stak bereits mit einem halben Dutzend besonderer Freunde unter dem Wagen und deutete mit seiner blauen Mütze auf die Kette. Ein anderes halbes Dutzend besonderer Freunde holte ihn geschickt wieder hervor und präsentierte ihn atemlos dem Herrn Marquis.
    »Ist der Mann davongelaufen, Schafskopf, als man den Radschuh brauchte?«
    »Monseigneur, er stürzte sich den Berghang hinunter, den Kopf voran, wie man tut, wenn man sich in den Fluß wirft.«
    »Kümmert Euch um die Sache, Gabelle. Vorwärts!«
    Das eine halbe Dutzend stak noch gleich Schafen zwischen den Rädern und sah nach der Kette; die Räder aber drehten sich so plötzlich, daß sie von Glück sagen konnten, wenn sie
ihre Haut und ihre Knochen retteten. Außerdem hatten sie freilich sehr wenig zu retten, sonst wäre es ihnen auch nicht so gut gelungen.
    Der rasche Anlauf, den der Wagen vom Dorfe aus genommen, wurde bald gehemmt durch die jenseits gelegene heftige Steigung. Die Bewegung ging allmählich in Schritt über, und der Wagen pendelte und holperte zwischen den vielen süßen Düften einer Sommernacht bergan. Die Postknechte, die jetzt statt der Furien von tausend winzigen Mücken umkreist wurden, flochten ruhig die zerfaserten Endschlingen ihrer Peitschen wieder zusammen; der Kammerdiener ging neben den Pferden her, und den Vorreiter hörte man in der dämmernden Ferne voraustraben.
    An der steilsten Stelle der Anhöhe befand sich ein kleiner Friedhof mit einem Kreuz und einem neuen großen Christusbild daran. Es war eine ärmliche Bildhauerarbeit, ausgeführt von einem ungeübten Dorfschnitzer; aber er hatte sein Werk nach dem Leben ausgeführt – nach seinem eigenen vielleicht –, denn die Figur war schrecklich mager und abgezehrt.
    Vor diesem traurigen Sinnbild einer Not, die seit langem immer größer wurde und den höchsten

Weitere Kostenlose Bücher