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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Grad noch nicht erreicht hatte, kniete ein Weib. Sie wandte sich um, als der Wagen sie erreichte, stand rasch auf und trat an den Kutschenschlag. »Seid Ihr es, Monseigneur? Monseigneur, eine Bitte.«
    Mit einem Ausruf der Ungeduld, aber unverändertem Gesichte sah Monseigneur hinaus.
    »Was ist schon wieder? Was soll's? Immer Bitten!«
    »Monseigneur, um des barmherzigen Gottes willen, mein Mann, der Förster …«
    »Was ist mit deinem Mann, dem Förster? Immer dasselbe mit euch Leuten. Er kann wohl nicht zahlen?«
    »Er hat alles bezahlt, Monseigneur. Er ist tot.«
    »Nun, dann hat er Ruhe. Kann ich ihn dir zurückgeben?«
    »Leider nein, Monseigneur. Aber er liegt dort unter einem ganz kleinen Rasenhügel.«
    »Was weiter?«
    »Monseigneur, der armseligen Hügel sind so viele.«
    »Nun, und?«
    Sie sah alt aus, obschon sie jung war. Ihr Benehmen verriet den tiefsten Kummer. Sie schlug wiederholt mit wildem Schmerz ihre dürren, dickadrigen Hände zusammen und legte dann eine auf den Kutschenschlag – zart und liebkosend, als sei er eine Menschenbrust, von der sich Gefühl für die flehentliche Berührung erwarten ließ.
    »Monseigneur, hört mich! Monseigneur, hört meine Bitte! Mein Mann ist aus Mangel gestorben; so viele sterben aus Not, und noch viele werden vor Mangel zugrunde gehen.«
    »Was willst du von mir? Kann ich sie füttern?«
    »Monseigneur, das weiß der liebe Gott, aber ich verlange es nicht. Meine Bitte beschränkt sich nur darauf, daß ein Stückchen Stein oder Holz mit meines Mannes Namen darauf an die Stelle gesetzt werde, wo er liegt. Der Platz wird sonst bald vergessen und nicht mehr aufzufinden sein, wenn ich gestorben bin an derselben Krankheit und ich gleichfalls mein Bett finde unter so einem Rasenhügel. Monseigneur, es sind ihrer so viele; sie vermehren sich so schnell; es gibt so viel Not. Monseigneur! Monseigneur!«
    Der Kammerdiener schob sie von dem Schlag zurück; der Wagen war in einen raschen Trab übergegangen, und die Postknechte trieben vorwärts, daß sie bald weit zurückblieb. Monseigneur aber verminderte, wieder wie von den Furien gejagt, rasch den Abstand von einer oder zwei Wegstunden, der ihn noch von seinem Schlosse trennte.
    Die süßen Düfte der Sommernacht verbreiteten sich über
alles um ihn her und umhüllten auch unparteiisch, wie der fallende Regen, die staubige, zerlumpte, von Arbeit erschöpfte Gruppe an dem nicht fern gelegenen Brunnen, der der Straßenarbeiter unter Beihilfe der blauen Mütze, ohne die er nichts war, in aller Ausführlichkeit seinen gespenstischen Mann beschrieb, solange sie zuhören wollte. Da sie jedoch endlich auch dieses satt kriegte, so verschwand allmählich einer um den anderen, und aus den kleinen Fenstern begannen Lichter zu flimmern, die, als die Fenster wieder dunkel wurden und mehr Sterne herauskamen, statt ausgelöscht, an den Himmel hinaufgeschossen zu sein schienen.
    Um diese Zeit breitete sich der Schatten eines großen Hauses mit hohem Dach und vieler breitkroniger Bäume über den Marquis. Und der Schatten wurde durch das Licht einer Fackel abgelöst, als sein Wagen Halt machte und das Portal seines Schlosses für ihn geöffnet wurde.
    »Ich erwarte Monsieur Charles; ist er aus England angelangt?«
    »Noch nicht, Monseigneur.«
    Neuntes Kapitel
    Das Medusenhaupt
    Das Schloß des Herrn Marquis war ein großer, schwerfälliger Bau mit einem großen, steinbepflasterten Hof davor und zwei mächtigen Steintreppen, die zu einer steinernden Terrasse vor dem Hauptportal hinaufführten. Alles war versteinert, schwere Steinbalustraden, steinerne Urnen, steinerne Blumen, steinerne Menschengesichter und steinerne Löwenköpfe überall, als hätte ein Medusenhaupt darauf geblickt, als dies gebaut wurde vor zweihundert Jahren.
    Vor der breiten Flucht der niedrigen Treppen stieg Monsieur le Marquis aus dem Wagen; die Fackel ging ihm voran und durchbrach die Dunkelheit hinreichend, um einer Eule in dem Dach des mächtigen, hinter den Bäumen versteckten Marstalls lebhaften Widerspruch zu entlocken. Alles andere war so ruhig, daß die treppauf getragene Fackel und die Fackel, die man unter dem Portal hielt, brannten, als seien sie nicht in freier Luft, sondern in einem geschlossenen Prunksaal. Außer der Stimme der Eule ließ sich kein weiterer Laut vernehmen als das Plätschern einer Fontäne in ihrem steinernen Becken; denn es war eine von jenen dunklen Nächten, die ihren Atem stundenlang anhalten und dann zu einem tiefen Seufzer

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