Eine Geschichte aus zwei Städten
der Fleetstraße während der geschäftigen Stunden des Tages seinen Platz haben, ohne ständig von zwei endlosen Prozessionen verwirrt und betäubt zu werden, von denen eine immer westwärts mit der Sonne und die andere ostwärts der Sonne entgegen zog?
Seinen Wisch Stroh im Munde, betrachtete Mr. Cruncher die beiden Ströme, gleich dem heidnischen Bauern, der vor Jahrhunderten die Obliegenheit hatte, einen Strom zu überwachen, nur mit dem Unterschied, daß Jerry sich keine Hoffnung machte, seine beiden je versiegen zu sehen. Es wäre dies auch keineswegs für ihn vorteilhaft gewesen, weil er einen kleinen Teil seines Einkommens dadurch erwarb, daß er furchtsame Weiber, meist schmuck herausgeputzte Personen, die die Hälfte des Lebens bereits hinter sich hatten, von der Tellsonschen Seite nach dem anderen Ufer hinüberlotste. So kurz auch ein solcher Verkehr in jedem einzelnen Falle war, versäumte doch Mr. Cruncher nie, sich für die Dame in einem Grade zu interessieren, daß er ihr den lebhaften Wunsch ausdrückte, es möchte ihm die Ehre zuteil werden, auf ihre Gesundheit zu trinken. Und mit den Gaben, die ihm zur Erfüllung dieser wohlwollen
den Absicht gereicht wurden, verstärkte er, wie wir eben bemerkten, seine Finanzen.
Es gab eine Zeit, in der an einem öffentlichen Platz ein Dichter auf einem Schemel saß und angesichts der Menschen sich seine Gedanken machte. Mr. Cruncher saß auch an öffentlichem Platze auf einem Schemel; da er aber kein Dichter war, dachte er sowenig wie möglich und schaute nur umher.
So war er auch zu einer Zeit beschäftigt, als die Menschenmassen spärlicher, der verspäteten Damen immer weniger wurden und seine Geschäfte im allgemeinen so schlecht gingen, daß in seiner Brust der lebhafte Verdacht erwachte, Mrs. Cruncher müsse wieder ›gegen ihn‹ gebetet haben. Da fügte sich's denn, daß ein ungewöhnliches Gedränge nach Westen, das sich die Fleetstraße herunter bewegte, seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Seine Blicke in diese Richtung sendend, sah er, daß eine Art Leichenzug einherkam und daß der Lärm, der ihn begleitete, von protestierenden Volksmassen rührte.
»Junge«, sagte Mr. Cruncher, sich an seinen Sprößling wendend, »'s ist eine Leiche.«
»Hurra, Vater!« rief der junge Jerry.
Der junge Gentleman stieß diesen jubelnden Ton mit geheimnisvoller Bedeutsamkeit aus; der alte aber nahm ihn so übel, daß er die Gelegenheit ersah, dem wackeren Jüngling eins hinter die Ohren zu geben.
»Was soll das heißen? Warum krakeelst du so, und was willst du deinem Vater damit sagen, du junger Rüpel? Der Bub wird mir allmählich zur Last«, sagte Mr. Cruncher, ihn vom Kopfe bis zu den Füßen betrachtend. »Ja, du mit deinem Hurra! Laß mich das nicht wieder hören, oder du sollst's zu fühlen kriegen. Hast du mich verstanden?«
»Ich hab's nicht bös gemeint«, versicherte der junge Jerry, den getroffenen Teil reibend.
»Das will ich hoffen, denn mit deinen Tücken kämst du mir übel an«, sagte Mr. Cruncher. »Da, steig auf diesen Sitz hinauf und schau mir nach den Leuten.«
Sein Sohn gehorchte. Das Gewühl kam näher. Man lärmte und zischte um einen unscheinbaren Trauerwagen und um eine unscheinbare Trauerkutsche her, in der nur ein einziger Leidtragender mit den für die Würde seiner Stellung unerläßlich scheinenden schwarzen Florbehängen saß. Sein Platz gefiel ihm übrigens, wie man wohl sehen konnte, nicht sonderlich; denn es sammelte sich um die Kutsche immer mehr Pöbel, der Grimassen gegen ihn schnitt, spottete, zischte und ihm nebst vielen anderen Komplimenten, die zu zahlreich und zu saftig für eine Wiederholung sind, unablässig den Ehrentitel ›Spion‹ zurief.
Leichenbegängnisse hatten für Mr. Cruncher stets eine merkwürdige Anziehungskraft besessen; er strengte immer alle seine Sinne an und geriet in Aufregung, wenn ein Leichenzug an Tellsons vorbeikam. Die Aufregung war natürlich um so größer, wenn er von einem ungewöhnlichen Gefolge begleitet wurde, und unser Ehrenmann fragte den ersten besten, der gegen ihn anrannte:
»Was gibt's da, Bruder? Was treibt man?«
»Ich weiß nicht«, versetzte der Mann, »Hallo! Spion!«
Er fragte einen andern: »Wer ist's?«
»Weiß nicht«, entgegnete der Gefragte, schlug aber gleichwohl die Hände zusammen und schrie aus Leibeskräften: »Hallo! Spion! Hallo! Spion!«
Endlich stieß einer, der besser über das Nähere des Vorgangs unterrichtet war, gegen ihn an, und von diesem erfuhr
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