Eine Geschichte aus zwei Städten
Ihr mir ihn schildert, doch einigermaßen einem Einfluß von meiner Seite zuzuschreiben ist, wäre dieser Einfluß – ich weiß nicht, ob ich mich recht ausdrücken kann – nicht dahin zu wenden, daß er Euch nützlich würde? Besitze ich gar keine Macht, die Euch frommen könnte?«
»Ich bin hergekommen, Miß Manette, um das Beste, dessen ich noch fähig bin, zu verwirklichen. Laßt mich durch den Rest meines verfehlten Lebens die Erinnerung tragen, daß ich
Euch als dem letzten Menschen auf der Welt mein Herz aufgeschlossen habe und daß Ihr noch etwas in mir gefunden habt, was Ihr beklagen und bemitleiden konntet.«
»Ach, ich bitte Euch aufs flehentlichste und aus dem Grund meiner Seele, glaubt mir, Ihr seid noch besserer Dinge fähig.«
»Mutet mir keinen solchen Glauben zu, Miß Manette. Ich habe mich geprüft und weiß es besser. Doch ich betrübe Euch und will deshalb ein Ende machen. Darf ich, wenn ich mir diesen Tag wieder vergegenwärtige, die Überzeugung in mir tragen, das letzte Vertrauen meines Lebens ruhe nur in Eurer reinen, unschuldigen Brust und werde nie von jemand geteilt werden?«
»Wenn Euch das ein Trost ist, so nehmt meine Versicherung.«
»Auch nicht von dem teuersten Wesen, das Euch das Schicksal zuführt?«
»Mr. Carton«, versetzte sie nach einer Pause voll Aufregung, »das Geheimnis betrifft Euch, nicht mich, und ich verspreche Euch, es zu achten.«
»Ich danke Euch! Noch einmal Gottes Segen über Euch!«
Er drückte ihre Hand an seine Lippen und ging zur Tür.
»Sorgt nicht, Miß Manette, daß ich je auch nur mit dem flüchtigsten Worte auf dieses Gespräch zurückkommen werde. Es soll nie wieder von mir berührt werden. Wenn ich tot wäre, so könnte es nicht sicherer bewahrt sein. Noch in meiner Sterbestunde soll mir die eine heilige Erinnerung vorschweben – ich werde Euch dankbar dafür segnen –, daß meine letzten Bekenntnisse über mich Euch gemacht wurden und daß mein Elend und meine Verirrungen Euch zu Herzen gingen. Möge dieses Herz sonst leicht und glücklich sein!«
Er war so anders, als er sich bisher gezeigt, und der Gedanke, wieviel er vergeudet und wieviel er jeden Tag unterdrückt und verdorben hatte, erfüllte Lucie Manette mit solcher Weh
mut, daß sie, als er dastand und nach ihr zurückschaute, helle Tränen vergoß.
»Tröstet Euch«, sagte er; »ich bin eines solchen Gefühls nicht wert, Miß Manette. Noch eine Stunde oder zwei, und die gemeinen Kameraden und Gewohnheiten, an denen ich hänge, obschon ich sie verachte, werden erreichen, daß ich solche Tränen noch weniger verdiene als der nächste beste Elende, der sich über die Straße schleppt. Tröstet Euch! Aber in meinem Innern werde ich gegen Euch stets sein, was ich jetzt bin, obschon ich äußerlich so bleiben werde, wie Ihr mich bisher gesehen habt. Glaubt mir das; außer dieser Bitte liegt mir nur noch eine am Herzen.«
»Ich glaube Euch, Mr. Carton.«
»Also meine letzte; habe ich diese noch vorgebracht, so will ich Euch von einem Gast befreien, mit dem Ihr, wie ich wohl weiß, nichts gemein habt und der durch eine tiefe Kluft von Euch getrennt ist. Ich weiß, es ist nutzlos, es zu sagen, aber es drängt sich mir aus der Seele. Für Euch und jeden, der Euch teuer ist, könnte ich alles tun. Wäre meine Laufbahn von besserer Art, so daß sie mir Gelegenheiten böte, Opfer zu bringen, so wollte ich sie mit Freuden benutzen für Euch und Eure Lieben. Versucht in ruhigen Stunden Euch daran zu erinnern, daß dies mein heißer, aufrichtiger Ernst ist. Die Zeit wird kommen, vielleicht bald kommen, die Euch neue Bande bringt – Bande, die Euch noch stärker und zärtlicher an die Heimat fesseln, deren Zierde Ihr seid –, die heiligsten Bande, die das Glück Eures Lebens ausmachen. O Miß Manette, wenn das kleine Ebenbild von dem Angesicht eines glücklichen Vaters zu Euch aufblickt, wenn Ihr Eure eigene Schönheit in dem Sprößling zu Euren Füßen neu aufblühen seht, so denkt hin und wieder daran, daß es einen Menschen gibt, der bereitwillig sein Leben hingäbe, um ein Leben, das Ihr liebt, an Eurer Seite zu erhalten.«
Er sagte: »Lebt wohl!« und sagte: »Gott behüte Euch immer!« und verließ sie.
Vierzehntes Kapitel
Der ehrliche Geschäftsmann
Wenn Mr. Jeremias Cruncher mit seinem greulichen Zwerg neben sich in der Fleetstraße auf seinem Schemel saß, so sah er jeden Tag eine Menge der verschiedensten Gegenstände vor seinen Augen vorüberziehen. Wer konnte auch irgendwo in
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