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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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sein Sohn einen scheuen Blick
auf ihn geworfen hatte, wie er so rücklings dalag mit den rostbedeckten Händen als Kissen unter dem Kopfe, legte auch er sich wieder hin und schlief aufs neue ein.
    Zum Frühstück gab es keinen Fisch und auch nicht viel anderes. Mr. Cruncher war verstimmt und mißmutig und hielt stets einen eisernen Topfdeckel in seiner Nähe als Korrektionsgeschoß für Mrs. Cruncher, falls sie Miene machte, ihren Morgensegen zu sprechen oder zu denken. Zu der gewohnten Stunde hatte er sich gewaschen und gekämmt und machte sich mit seinem Sohn auf den Weg, um seinen offiziellen Beruf anzutreten.
    Der junge Jerry, der mit seinem Schemel unter dem Arm neben seinem Vater in dem Gedränge der sonnigen Fleetstraße dahinschritt, war ein ganz anderer junger Jerry, als der in der letzten Nacht durch Einsamkeit und Dunkel vor seinem schrecklichen Verfolger nach Hause lief. Sein Geist hatte sich mit dem Tage aufgefrischt, und seine Ängste waren mit der Nacht vergangen, eine Eigentümlichkeit, in der er an jenem schönen Morgen viele seinesgleichen hatte, in der Fleetstraße sowohl wie in der Stadt London überhaupt.
    »Vater«, sagte der junge Jerry unterwegs, indem er zugleich Sorge trug, sich auf Armeslänge fernzuhalten und den Schemel zwischen sich und den Alten zu bringen, »was ist ein Auferstehungsmann?«
    Mr. Cruncher blieb wie auf das Pflaster gebannt stehen, ehe er antwortete:
    »Wie soll ich das wissen?«
    »Ich dachte, Ihr wißt alles, Vater«, lautete die arglose Erwiderung des Knaben.
    »Hm! Nun«, entgegnete Mr. Cruncher, den Weg wiederaufnehmend und den Hut lüpfend, um seinen Stacheln freies Spiel zu lassen, »er ist ein Geschäftsmann.«
    »Und womit handelt er?« fragte der schlaue junge Jerry.
    »Womit er handelt?« versetzte Mr. Cruncher nach einigem Besinnen. »Er handelt mit wissenschaftlichen Gegenständen.«
    »Nicht wahr, mit Leichnamen, Vater?« fragte der aufgeweckte Knabe.
    »Ich glaube, so etwas ist es«, antworte Mr. Cruncher.
    »Oh, Vater, ich möchte wohl auch ein Auferstehungsmann werden, wenn ich einmal groß bin.«
    Mr. Cruncher fühlte sich beruhigt, schüttelte aber doch nachdenklich und moralisierend den Kopf.
    »Es hängt davon ab, wie du deine Talente entwickelst. Laß dir's angelegen sein, deine Talente auszubilden, und sprich von solchen Dingen gegen niemand mehr, als eben gerade notwendig ist; denn vorderhand kann man noch nicht wissen, wofür du dich mit der Zeit eignen magst.«
    Als der junge Jerry, in solcher Weise ermutigt, einige Schritte vorausging, um den Schemel in dem Schatten des Tores aufzustellen, fügte Mr. Cruncher bei sich selbst hinzu:
    ›Jerry, ehrlicher Geschäftsmann, es ist Hoffnung vorhanden, daß der Knabe noch ein Segen für dich und ein Ersatz werden wird für seine Mutter!‹
    Fünfzehntes Kapitel
    Ein Strickzeug
    Es gab früher als gewöhnlich Gäste in Monsieur Defarges Weinstube. Schon morgens um sechs Uhr hatten bleiche Gesichter, die durch die vergitterten Fenster hineinschauten, drinnen andere Gesichter bemerkt, die sich über ihre Weingläser niederbeugten. Selbst in den besten Zeiten verkaufte Monsieur
Defarge nur sehr dünnen Wein, aber er schien eben jetzt ganz ungewöhnlich dünn zu sein. Ein saurer Wein obendrein oder ein sauer machender, denn er versetzte die Trinker in eine gar trübe Stimmung. Keine helle, fröhliche Flamme loderte aus der gepreßten Traube des Monsieur Defarge, sondern ein glimmendes Feuer, das nur heimlich brannte, barg sich in ihrer Hefe.
    Es war der dritte dieser Frühtrunke in Monsieur Defarges Weinstube. Sie hatten am Montag begonnen, und heute war Mittwoch. Man konnte es übrigens eher ein Morgenbrüten nennen als ein Trinken; denn seit die Tür geöffnet worden, hatten viele Leute zugehört, geflüstert und waren wieder fortgeschlichen, die, selbst wenn es ihrem Seelenheil gegolten, keine Münze auf den Zahltisch hätten legen können. Sie waren jedoch in der Stube ebenso angesehen, als wenn sie über ganze Fässer Wein zu verfügen vermocht hätten, und man sah sie von Sitz zu Sitz, von einer Ecke zur andern gleiten, wie sie mit gierigen Blicken statt des Trunks die Reden einsogen.
    Ungeachtet des außerordentlichen Zulaufs von Gästen war der Inhaber des Weinschanks nicht sichtbar. Er wurde auch nicht vermißt; denn niemand von denen, die über die Schwelle schritten, sah sich nach ihm um oder fragte nach ihm. Niemand wunderte sich, daß nur Madame Defarge die Abgabe des Weins von ihrem Sitze aus

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