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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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hatte meiner Arbeit den Rücken gekehrt, die Sonne ging unter, die Kutsche des Marquis fuhr langsam bergan, und er hing in der Kette – so.«
    Und der Alte machte wieder das Kunststück, in dem er es seitdem zu einer großen Vollkommenheit gebracht haben mußte, da er während eines ganzen Jahres die unfehlbare und unentbehrliche Unterhaltung seines Dorfes gewesen war.
    Jacques eins fragte, ob er den Mann je zuvor gesehen habe.
    »Nie«, antwortete der alte Mann, indem er sich wieder lotrecht hinstellte.
    Jacques drei wollte wissen, wie er ihn nachher wiedererkannt habe. »An seiner langen Gestalt«, versetzte der Straßenarbeiter halblaut, indem er den Finger an seine Nase legte. »Als Monsieur le Marquis an jenem Abend zu mir sagte: ›Sag, wie er aussah‹, gab ich ihm zur Antwort: ›Lang wie ein Gespenst‹.«
    »Ihr hättet sagen sollen: klein wie ein Zwerg«, bemerkte Jacques zwei.
    »Was wußte ich? Die Tat war damals noch nicht geschehen, und er hatte mich nicht zu seinem Vertrauten gemacht. Auch muß ich bemerken, daß ich selbst unter den obwaltenden Verhältnissen nicht mein Zeugnis anbot. Monsieur le Marquis deutet mit dem Finger auf mich, während ich neben unserem kleinen Brunnen stehe, und sagt: ›Bringt mir diesen
Schurken her.‹ Wahrhaftig, meine Herren, ich habe nicht aus freien Stücken ausgesagt.«
    »Es ist so, Jacques«, bemerkte Defarge halblaut gegen den Mann hin, der ihn unterbrochen hatte. »Erzählt weiter!«
    »Gut«, sagte der Alte mit geheimnisvoller Miene. »Der lange Mensch verschwindet und wird gesucht – wie viele Monate? Neun, zehn, elf?«
    »Was liegt an der Zahl?« versetzte Defarge. »Er war gut versteckt, wurde aber zuletzt unglücklicherweise aufgefunden. Fahrt fort.«
    »Ich bin wieder an dem Bergabhang bei meinen Steinhaufen, und die Sonne ist wieder am Untergehen. Ich nehme mein Werkzeug zusammen, um nach dem Dorfe und in mein Häuschen zurückzukehren, das schon im Dunkeln liegt. Wie ich meine Augen aufrichte, seh ich über den Berg her sechs Soldaten kommen. In ihrer Mitte geht ein Mann, dem die Arme an die Seiten gebunden sind – so.«
    Mit Hilfe der unentbehrlichen Mütze stellte er einen Menschen dar, dem mit auf dem Rücken zugeknoteten Stricken die Ellenbogen an die Hüften gebunden sind.
    »Ich trete von meinem Steinhaufen zurück, meine Herren, um die Soldaten und ihren Gefangenen vorbeikommen zu sehen ('s ist ein einsamer Weg, wo alles, was vorkommt, das Zusehen verlohnt). Wie sie näher kommen, bemerke ich anfangs weiter nichts, als daß es sechs Soldaten sind mit einem gebundenen langen Manne; sie kommen meinem Auge fast schwarz vor, mit Ausnahme der Seite, wo die Sonne untergeht und wo sie einen roten Schein haben. Gut, meine Herren; ich sah, daß ihre langen Schatten über der Wegböschung sich an dem entfernteren Hange abmalen und wie die Schatten von Riesen erscheinen. Ferner bemerke ich, daß sie mit Staub bedeckt sind und daß jeder ihrer Schritte, wie sie trapp, trapp einherkom
men, neuen Staub aufwühlt. Aber sobald sie mir ganz nahe gekommen sind, erkenne ich den langen Mann, und er erkennt mich. Ach, wie gern wär er wohl wieder über den Abhang hinuntergekugelt, wie an dem Abend, als ich ihm fast an demselben Plätzchen zum ersten Mal begegnete.«
    Er beschrieb es, als ob die dort wären, und es war ersichtlich, daß er es lebhaft vor Augen hatte; vielleicht war ihm in seinem Leben nicht viel zu Gesicht gekommen.
    »Ich lasse die Soldaten nicht merken, daß ich den langen Mann kenne; und auch er gibt kein Zeichen, daß er mich erkannt hat; wir verständigen uns aber durch die Augen. ›Vorwärts!‹ sagt der Führer der Abteilung und deutet auf das Dorf; ›macht, daß er zu seinem Grabe kommt.‹ Und sie treiben ihn schneller an. Ich folge. Seine Arme sind geschwollen wegen der festen Stricke, seine hölzernen Schuhe sind plump und schwer, so daß er kaum gehen kann. Weil es nun nicht recht vorwärts will, so helfen sie mit den Gewehren nach – so.«
    Er veranschaulichte das Vorwärtstreiben des Gefangenen durch Stöße mit den Musketenkolben.
    »Während sie gleich wie toll den Berg hinabrasen, fällt er. Sie heben ihn wieder auf und lachen. Sein mit Staub bedecktes Gesicht blutet; aber er kann nicht danach hinlangen, und sie lachen wieder darüber. Sie bringen ihn nach dem Dorfe; das ganze Dorf läuft zusammen, um ihn zu sehen. Man führt ihn an der Mühle vorbei und zum Gefängnis hinauf. Das ganze Dorf sieht, wie in der dunklen Nacht das

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