Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
Vom Netzwerk:
kunstvoll gearbeiteter Goldschmuck, Silbergefäße für Gelage und viele Münzen. Aus dem England der Angelsachsen hatte man zuvor nie etwas auch nur annährend Vergleichbares entdeckt. Das große Rätsel, das sich bei der Ausgrabung stellte, war, dass sich in dem Grab kein Leichnam befand. Doch Angus Wainwright hat dafür eine plausible Erklärung:
    «Damals mutmaßte man, ob es sich nicht um ein Kenotaph handelte, eine Grabstätte für jemanden, dessen Leichnam nicht aufzufinden war – also eine Art symbolisches Grab oder Scheingrab. Heute jedoch glauben wir, dass in diesem Grab sehr wohl ein Leichnam bestattet wurde, aber aufgrund des ungewöhnlich säurehaltigen Bodens hat er sich einfach aufgelöst. Denn man muss bedenken: Ein Schiff ist ein wasserdichtes Behältnis, und wenn man es im Boden vergräbt, dann sammelt sich das von oben her einsickernde Wasser und bildet eine Art Säurebad, in dem sich alle organischen Dinge wie der Leichnam, Ledersachen und Holz einfach rückstandslos auflösen.»
    Die Entdeckung dieses Schiffsgrabs weckte die Phantasie der britischen Öffentlichkeit – man sprach vom «britischen Tutenchamun». Doch die politischen Ereignisse des Jahres 1939 gaben dem Fund eine verstörende Dimension: Nicht nur mussten die Ausgrabungsarbeiten wegen des nahenden Krieges beschleunigt werden, auch das Grab selbst kündete von einer früheren – und erfolgreichen – Invasion Englands durch ein germanischsprachiges Volk. Angus Wainwright schildert, was man gefunden hat:
    «Schon gleich nach Beginn der Grabungen fand man Schiffsnieten aus Eisen, mit denen die Planken eines Bootes zusammengehalten werden. Man entdeckte überdies, dass das Holz, aus dem das Schiff gebaut war, völlig verrottet war, doch dank eines mysteriösen Prozesses hatte sich die Form des Holzes in einer Art harschigem, schwarz gewordenem Sand erhalten. Mittels behutsamer Ausgrabung förderte man nach und nach das ganze Schiff zutage. Es ist 27 Meter lang und damit das größte, vollständigste angelsächsische Schiff, das man je gefunden hat.
    Schiffe waren für diese Menschen ungeheuer wichtig. Die Flüsse und das Meer waren ihre Kommunikationsmittel. Es war damals viel leichter, auf Wasserwegen unterwegs zu sein als über Land, so dass Menschen in, sagen wir, Swindon, völligan der Peripherie der Welt dieser Leute lebten, während die Menschen in Dänemark und Holland enge Nachbarn gewesen sein dürften.»
    Wir wissen bis heute nicht, wem dieses Schiff gehörte, aber der Helm von Sutton Hoo gab einer schwer fassbaren Vergangenheit so etwas wie ein Gesicht, das uns seither aus Büchern, Zeitschriften und Zeitungen streng entgegenblickt. Unser Objekt ist zu einer Ikone der britischen Geschichte geworden.
    Es handelt sich um den Helm eines Helden, und als man ihn fand, dachten die Menschen sogleich an das große altenglische Epos
Beowulf
. Bis 1939 war man fest davon ausgegangen, dass es sich beim
Beowulf
im Wesentlichen um ein Phantasieprodukt handelte, das in einer imaginären Welt der Kriegerherrlichkeit und großer Feste angesiedelt war. Doch das Bootsgrab von Sutton Hoo mit seinen Kesseln, Trinkhörnern und Musikinstrumenten, mit seinen kunstvoll gefertigten Waffen und seinen üppigen Fellen und Pelzen und nicht zuletzt mit seinem Gold- und Silberschatz war Beleg dafür, dass der
Beowulf
keineswegs einfach nur poetische Erfindung war, sondern überraschend exakte Erinnerung an eine prunkvolle, verlorene, schriftlose Welt.
    Man betrachte den Helm mit seinen Tiermotiven aus vergoldetem Bronze- und Silberdraht und den Zeichen des Kampfes, die er trägt, und vergleiche ihn mit dem, was im
Beowulf
zu lesen ist:
    «Auch der weiße Helm, der das Haupt umwölbte,
    Sollte mit hinab zu des Moores Grund,
    Ins Wogengewühl: gewundene Reifen
    Umgaben ihn rings, den in grauer Vorzeit
    Ein Waffenschmied schuf, der mit Wildschweinköpfen
    Ihn kunstvoll besetzte, daß künftig niemals
    Geschwungene Schwerter ihm schaden konnten.»
    Kein Zweifel: Der angelsächsische Dichter des
Beowulf
muss sich etwas ganz Ähnliches wie unseren Helm sehr genau angesehen haben.
    Ich fragte den Nobelpreisträger und Lyriker Seamus Heaney, der den
Beowulf
übersetzt hat, was der Helm von Sutton Hoo für ihn bedeutet:
    «Ich habe diesen Helm nie in Bezug zu irgendeiner historischen Person gesetzt. In meiner eigenen Phantasie kommt er direkt aus der Welt des
Beowulf
, er erstrahlt im Zentrum des Gedichts und verschwindet dann wieder im Grabhügel. Am

Weitere Kostenlose Bücher