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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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bestenstellt man sich den Helm so vor, dass er zusammen mit dem historischen König – oder wer auch immer dort bestattet wurde – im Boden verschwindet und sein Leuchten unter der Erde allmählich erlischt. Es gibt einen ganz wundervollen Abschnitt im
Beowulf
, der den Titel ‹Der letzte Krieger› trägt, und dort vergräbt der letzte Vertreter seines Stammes den Schatz im Hort und sagt, liege hier, Schatz, du gehörst den Edlen – die Welt hat sich gewandelt. Und er nimmt Abschied vom Schatz und versenkt ihn im Boden. Dieses elegische Gefühl, dieses Abschiednehmen von Schönheit und geschätzten Objekten umgibt den Helm, wie ich finde. Also gehört er ins Gedicht, doch offenkundig gehörte er zur Grabkammer von Sutton Hoo. Aber er hält die Imagination besetzt, er hat das Grabmal verlassen und sich in der Verzückung der Leser des Heldengedichts und der Betrachter des Objekts im Museum eingenistet.»
    Der Helm von Sutton Hoo gehörte natürlich nicht einem imaginären poetischen Helden, sondern einem tatsächlichen historischen Herrscher. Das Problem ist: wir wissen nicht, welchem. Im Allgemeinen nimmt man an, ein dermaßen stil- und prunkvoll bestatteter Mann müsse ein großer «warlord» gewesen sein. Weil wir nun mal gerne die Funde im Boden mit Namen in den Texten in Verbindung bringen, wurde lange Zeit Raedwald als erster Anwärter gehandelt, der König von East Anglia, den Beda Venerabilis in seiner
Historia ecclesiastica gentis Anglorum
erwähnt und der vermutlich um 620 der mächtigste König in ganz England war.
    Aber wir können es eben nicht sicher sagen, und möglicherweise betrachten wir einen von Raedwalds Nachfolgern oder gar einen Anführer, der überhaupt keine Spuren hinterlassen hat. Der Helm schwebt also noch immer verführerisch in einem Bereich der Ungewissheit, an der Grenze zwischen Geschichte und Imagination. Seamus Heaney meint dazu:
    «Insbesondere nach dem 11. September 2001, als die Feuerwehrmänner in New York so ungeheuer mutig agierten, bekam der Helm für mich persönlich eine ganz neue Bedeutung, denn ich hatte irgendwann in den 1980er Jahren von einem Feuerwehrmann aus Boston einen Helm geschenkt bekommen, der ziemlich schwer und ganz klassisch gefertigt war, nämlich aus Leder und Kupfer, mit einem Metallgestell oben drüber und so weiter. Ich hatte diesen Helm bekommen und deutlich das Gefühl, ein rituelles Geschenk in Empfang zu nehmen, ganz ähnlich wie Beowulf von Hrothgar reich beschenkt wird, nachdem er Grendel getötet hat.»
    In gewisser Weise ist das gesamte Schiffsgrab von Sutton Hoo eine große rituelle Gabe, eine spektakuläre Demonstration von Reichtum und Macht von Seiten zweier Menschen – des Mannes, der dort bestattet wurde und enormen Respekt abnötigte, und des Mannes, der diesen üppigen Abschied organisierte und dafür enorme Mittel aufwandte.
    Das Schiffsgrab von Sutton Hoo katapultierte die Dichtung des
Beowulf
ganz unerwartet recht nahe an die historischen Fakten heran. Im Zuge dessen veränderte sich unser Verständnis dieses gesamten Kapitels britischer Geschichte grundlegend. Diese Zeit, die lange als finsteres Mittelalter abgetan worden war, diese Jahrhunderte nach dem Abzug der Römer konnte man nun auch als Zeit hohen Raffinements und weitreichender internationaler Kontakte betrachten, die East Anglia nicht nur mit Skandinavien und der Atlantikregion verbanden, sondern letztlich auch mit dem östlichen Mittelmeerraum und darüber hinaus.
    Schon die Idee des Schiffsgrabs stammt aus Skandinavien, und das Schiff von Sutton Hoo war eines, das problemlos die Nordsee durchquerte und East Anglia damit zum zentralen Teil einer Welt machte, zu der das heutige Dänemark, Norwegen und Schweden gehörten. Auch der Helm ist, wie schon fast zu erwarten, von skandinavischer Machart. Doch das Schiff enthielt auch Goldmünzen aus Frankreich, keltische Hängeschalen aus dem Westen Britanniens, kaiserliches Tafelsilber aus Byzanz und Granate, die aus Indien oder Sri Lanka stammen könnten. Die Schiffsbestattung ist zwar im Wesentlichen ein heidnisches Ritual, doch zwei Silberlöffel belegen eindeutig – direkten oder indirekten – Kontakt mit der christlichen Welt. Diese Entdeckungen zwingen uns zu einem anderen Blick nicht nur auf die Angelsachsen, sondern auch auf Britannien; denn was auch immer auf der am Atlantik gelegenen Seite des Landes der Fall gewesen sein mag: An der Ostküste waren die Briten seit jeher Teil der allgemeineren europäischen

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