Eine glückliche Ehe
in Orscha auf einem durchbluteten Strohsack und sprach über kosmetische Operationen.
Jetzt blickten sie in die Viehwaggons und kontrollierten, ob die Verwundeten halbwegs gut untergebracht waren. Die deutschen Sanis und die drei Schwestern reisten mit. Im ganzen waren sie siebenhundert deutsche Soldaten. Man hatte aus anderen Feldlazaretten und Sammelstellen alles nach Orscha gebracht.
»Öfen!« sagte der Stabsarzt. »Das bedeutet, daß wir in den Winter fahren. Sie schaffen uns nach Sibirien. Kollege Wegener, wir werden eine Masse Arbeit bekommen. Ich schätze, wir werden einige Monate auf den Schienen sein.«
Ich bin nicht Wegener, ich bin der Schlosser Hasslick aus Osnabrück, wollte er jetzt sagen. Es war eine gute Gelegenheit, sie standen allein vor dem langen Viehwagenzug, niemand hörte sie, die russischen Posten brüllten herum, weil das Ausladen nach ihrer Ansicht zu schleppend vor sich ging, und Maria Fedorowna, die in einem offenen Jeep vor dem Zug saß und stumm und bewegungslos alles beobachtete, war weit weg.
Aber er brachte es nicht heraus. Er würgte an den Worten; was er an Erklärungen anzubieten hatte, kam ihm jetzt dumm vor, und außerdem war es zu spät. Die Totenlisten waren abgeschickt worden, nach Moskau, von wo sie an das Internationale Rote Kreuz weitergeleitet werden sollten. So wenigstens hatte es Maria Fedorowna gesagt. »Unterschätzen Sie nicht unsere Humanität!« hatte sie hinzugefügt und dabei Hasslick angestarrt, als wolle sie ihn anspringen. »Ihr habt es alle nicht verdient!«
Peter Hasslick war tot. Amtlich und unwiderruflich. Es lebte weiter der Fähnrich und Medizinstudent Hellmuth Wegener, geboren in Hannover. Hasslick war nie in Hannover gewesen, er wußte nur, daß es dort eine Reifenfabrik gab und in der Nähe auch eine berühmte Rennstrecke.
Hellmuth Wegener, dachte er und stützte sich auf seinen Lattenstock. Und ich habe in Köln eine Frau. Irmgard, genannt Irmi. Eine junge, blonde, hübsche Frau mit großen blauen Augen. Sie würde nie erfahren, daß sie bereits Witwe war, daß ihr Mann im Flur der Schule von Orscha auf der Erde krepiert ist, mit einem letzten Gedanken an sie und glücklich, daß er in Peter Hasslick, seinem Freund, für sie weiterlebte.
»Woran denken Sie?« fragte der Stabsarzt. Hasslick zuckte zusammen.
»An Deutschland.«
»Diese Gedanken verdrängen Sie mal in den nächsten Jahren.«
»An meine Frau.«
»Sie sind verheiratet?«
»Ja. Ganz kurz. Seit Juni. Ferntrauung.«
»Prost!«
»Ich sollte Weihnachten Urlaub bekommen.«
»Den haben Sie jetzt. Einen dauernden Schneeurlaub, Wegener. Wo wir hinkommen, taut auch im Sommer der Boden nur zwanzig Zentimeter tief auf, darunter bleibt er gefroren.« Die letzten Wagen wurden entladen. Maria Fedorowna ließ den Jeep anspringen und fuhr langsam auf sie zu. »Da kommt die herrliche Hexe«, sagte der Stabsarzt. »Sie wird uns zum Abschied sagen, daß wir solche humane Behandlung gar nicht verdient haben. Mußten Sie unbedingt heiraten?«
»Ja. Ich liebe meine Frau.«
Wie das klingt: Ich liebe meine Frau. Und ich kenne sie überhaupt nicht. Nur ihre Fotos. Aber hatte Hellmuth Wegener mehr von ihr gekannt? Und sie von ihm? Und doch hatten sie sich geliebt. Es war schon erlaubt zu sagen: Ich liebe meine Frau.
»Alles einsteigen!« schrie ein deutscher Hauptmann, Verbindungsmann zu dem sowjetischen Zugkommandanten. »Die Türen werden gleich verriegelt.«
»Verriegelt?« Hasslick blickte die Waggons entlang.
»Von außen. Wir sind eine Ware. Siebenhundert Fleischklumpen.«
»Und wie sollen wir die Verwundeten behandeln?«
»Darauf kommt es nicht an. Wichtig ist, daß man uns nach Sibirien schafft.«
Drei Stunden später ratterte der Güterzug aus dem Bahnhof von Orscha. Die Waggons waren geschlossen, rollende Holzkisten mit zwei vergitterten Luftschlitzen dicht unter dem Dach. Die Verwundeten stöhnten, wimmerten, fluchten. Der Boden war hart, die Strohschüttung zu dünn, man spürte jeden Stoß durch den Körper schlagen.
In Hasslicks Wagen waren vierzig Schwerverletzte. Eine Wolke von Stöhnen und Schluchzen umgab ihn. Ein Obergefreiter mit einem amputierten Arm rückte zu ihm und bot ihm einen Apfel an. »Geklaut, in der Küche«, sagte er. »Und zum Abschied habe ich ihnen in die Mehltonne geschissen. Das merken sie erst morgen, wenn sie Brot backen. Oder auch nicht …« Er lachte und biß in den Apfel. Hasslick nahm ihn und riß ein großes Stück davon mit den Zähnen
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