Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Hand voll Asche

Eine Hand voll Asche

Titel: Eine Hand voll Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jefferson Bass
Vom Netzwerk:
herauszufinden war sicher auch nicht schwer. Und doch zögerte ich und konnte mich nicht mit der Vorstellung anfreunden, die Auskunft anzurufen. Als ich im Geiste einen Schritt zurücktrat und den Grund für mein Zögern analysierte, wurde es mir schnell klar. Ich hatte im Laufe meiner Arbeit viele Sheriffs im ländlichen Tennessee kennen und schätzen gelernt. Doch im letzten Jahr hatte ich in Cooke County zwei Begegnungen mit Deputys gehabt, die für mich beinahe tödlich ausgegangen wären. Chief Deputy Orbin Kitchings war regelmäßig an der Hahnenkampfarena anzutreffen und Deputy Leon Williams hatte Dynamit benutzt, um Art Bohanan und mich in einer Höhle zu verschütten. Einerseits hatte ich keinen Grund zu der Annahme, dass der Sheriff im Nordwesten von Georgia wegsah, wenn im Wald Leichen aufgehäuft wurden. Andererseits hatte ich auch keine besondere Veranlassung, ihm zu vertrauen. Und wenn der Sheriff zufällig mit dem Krematorium unter einer Decke steckte, konnte mein Anruf tatsächlich dazu führen, dass rasch aufgeräumt und die Sache im großen Stil vertuscht wurde. Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger wollte ich die örtlichen Behörden anrufen.
    Aber wenn nicht die, wen dann?
    Müde schaute ich in den Atlas, und mein Blick irrte nach Süden Richtung Atlanta. »Sean Richter«, sagte ich laut. »Ich kann Sean anrufen.«
    Sean Richter war ein ehemaliger Student von mir. Nach seinem Magisterabschluss war er ein Jahr auf dem Balkan gewesen, wo er geholfen hatte, Massengräber auszuheben und Opfer ethnischer Säuberungen im Kosovo zu identifizieren. Jetzt arbeitete er in Atlanta als forensischer Anthropologe für die Kriminalpolizei von Georgia. Als Fall von Interstate Wire Fraud war das Krematorium womöglich zu klein, als dass das FBI sich damit befasste. Aber als innerstaatlicher Fall von Telefonbetrug konnte die Sache groß genug sein, um die Kriminalpolizei zu interessieren. Dass es Sean interessieren würde, dessen war ich mir sicher, schließlich wies das Ganze Ähnlichkeit mit der Identifikation der zahllosen Todesopfer auf, an der er im Kosovo beteiligt gewesen war. Ich fischte meinen Taschenkalender heraus, in dem hinten ein kleines Adressbuch war, und schlug seine Telefonnummer nach.
    »Forensische Anthropologie, Richter.«
    »Sean, hier spricht Bill Brockton.«
    »Dr. Brockton, wie geht es Ihnen?«
    »Mir geht’s gut, aber noch besser ginge es mir, wenn Sie endlich aufhören würden, mich Dr. Brockton zu nennen, Sean. Sie sind kein Student mehr, Sie sind jetzt mein Kollege. Es wird allmählich Zeit, dass Sie mich Bill nennen.«
    »Ich will’s versuchen«, sagte er. »Aber es wird mir schwerfallen, mir das abzugewöhnen. Einmal eine rechtsmedizinische Legende, immer eine rechtsmedizinische Legende.«
    »Also, sobald Sie den Fall knacken«, sagte ich, »sind Sie selbst eine Legende.«
    »Welchen Fall?«
    »Wie würde es Ihnen gefallen, die Bergung und Identifizierung von hundert, womöglich auch mehr in Verwesung befindlichen Leichen zu leiten? Vielleicht auch sehr viel mehr?«
    Er lachte. »Sie sind einer der wenigen Menschen, für die das tatsächlich eine unwiderstehliche Versuchung darstellt«, sagte er. »Aber zu denen gehöre ich auch. Leider glaube ich nicht, dass ich im Augenblick Urlaub bekommen kann, um mich darum zu kümmern. Ich fürchte, mit Reisen ist erst einmal Schluss, vorerst jedenfalls.«
    »Sie müssen nicht reisen. Wenigstens nicht außerhalb Ihres Zuständigkeitsbereichs.«
    Sean sagte eine ganze Weile gar nichts. Als er das Schweigen brach, klang seine Stimme unnatürlich und gezwungen, als presste er die Worte unter Aufbietung aller Willenskraft heraus. »Wollen Sie damit sagen, Sie glauben, hier in Georgia ist irgendwo ein Massengrab mit hundert oder mehr Leichen darin?«
    »Nein, nicht genau«, sagte ich. »Ich glaube es nicht, ich weiß es. Aber es ist kein Grab, es ist oberirdisch. Sie müssen nicht mal graben.« Als ich ihm erzählte, was ich im Wald gesehen hatte, unterbrach er mich immer wieder, bat mich, einige Einzelheiten zu wiederholen, zu bestätigen oder weiter auszuführen. Das Zittern in seiner Stimme machte einer Mischung aus Aufregung und Zorn Platz. Sean war klug genug, um zu erkennen, dass dieser Fall nicht nur rechtsmedizinisch sehr faszinierend sein würde, sondern auch den Wendepunkt seiner Karriere bedeuten konnte. Doch sein Zorn über die Leichenschändungen – Tote, im Wald abgeladen wie Abfall –, war echt, und ich wusste, dass

Weitere Kostenlose Bücher