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Eine Handvoll Dunkelheit

Eine Handvoll Dunkelheit

Titel: Eine Handvoll Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
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reagierten, als Silvia und Rick das Zimmer betraten.
    Verständnislos blieb Rick stehen. Walter Everett war nach vorn gesunken, die Zeitung in einer Hand, und seine Pfeife in dem großen Aschenbecher auf der Sessellehne rauchte noch immer. Mrs. Everett hatte ihr Nähzeug im Schoß liegen, ihr Antlitz war ernst und streng, aber merkwürdig unklar zu erkennen. Ein formloses Gesicht, als ob das Fleisch schmolz und zusammenlief. Jean war ein formloser Haufen, ein grober Lehmklumpen, der mehr und mehr seine Umrisse einbüßte.
    Unvermittelt brach Jean zusammen. Ihre Arme hingen schlaff herab. Ihr Kopf sackte nach vorn. Ihr Körper, ihre Arme und Beine wurden voller. Ihre Gesichtszüge veränderten sich rasch. Ihre Kleidung wechselte. Farbe glomm in ihren Haaren, ihren Augen, ihrer Haut. Die wächserne Blässe war verschwunden.
    Sie preßte ihre Finger an die Lippen und sah flehentlich zu Rick auf. Sie blinzelte, und ihr Blick klärte sich. „Oh“, keuchte sie. Nur widerstrebend bewegten sich ihre Lippen; ihre Stimme war leise und schwankte, wie eine schlechte Schallplattenaufnahme. Ruckartig richtete sie sich auf, mit unkoordinierten Bewegungen, die sie schwerfällig auf die Beine brachten und auf ihn zugehen ließen – mit mühsamen, starrbeinigen Schritten, wie eine Marionette.
    „Rick, ich habe mich geschnitten“, sagte sie. „An einem Nagel oder etwas Ähnlichem.“
    Was Mrs. Everett gewesen war, erbebte. Formlos und nur verschwommen sichtbar, gab es dumpfe Laute von sich und schwankte grotesk hin und her. Allmählich nahm es wieder klare Gestalt an. „Mein Finger“, stöhnte eine matte Stimme. Wie Spiegelbilder, die von der Finsternis aufgesogen wurden, begann die dritte Gestalt in dem Lehnstuhl zu sprechen. Bald wiederholten sie alle den Satz, jeder den Finger ausgestreckt, gleichförmig die Lippen bewegend.
    „Mein Finger. Ich habe mich geschnitten, Rick.“
    Papageien, die die Worte und Bewegungen nachäfften. Und die Gestalten waren ihm vollkommen vertraut. Wieder und wieder erklang der Satz. Zwei saßen auf der Couch, eine in dem Lehnstuhl, die vierte war ihm ganz nah – so nah, daß er ihren Atem hören und das Zittern ihrer Lippen beobachten konnte.
    „Was ist?“ fragte die Silvia neben ihm.
    Auf der Couch begann eine Silvia wieder die Näharbeit aufzunehmen – sie nähte methodisch, vollkommen in der Tätigkeit versunken. In dem bequemen Sessel hob eine andere ihre Zeitung, ihre Pfeife, und fuhr fort zu lesen. Eine kauerte nervös und furchtsam auf dem Boden. Jene, die neben ihm stand, folgte ihm, als er zur Tür zurückwich. Sie schluchzte verwirrt, und ihre grauen Augen waren geweitet, ihre Nasenflügel gebläht.
    „Rick …“
    Er riß die Tür auf und floh hinaus auf die dunkle Veranda. Mechanisch stieg er die Treppe hinunter, schritt durch die Nachtfinsternis auf die Straße zu. In dem hellen, gelben Viereck hinter ihm zeichneten sich Silvias Umrisse ab, wie sie ihm unglücklich nachblickte. Und hinter ihr die anderen Gestalten, identische, vollkommene Kopien, die ihren Beschäftigungen nachgingen.
    Er erreichte das Coupe und steuerte es auf die Straße.
    Düstere Bäume und Häuser huschten an ihm vorbei. Er fragte sich, was noch alles geschehen würde. Die überschwappenden Wellen breiteten sich aus – ein ständig größer werdender Kreis, während das Ungleichgewicht zunahm.
    Er wandte sich in Richtung Hauptstraße; bald tauchten weitere Autos auf. Er versuchte, etwas durch die Scheiben zu erkennen, aber die Fahrzeuge bewegten sich zu schnell. Der Wagen vor ihm war ein roter Plymouth. Ein schwergewichtiger Mann in einem blauen Geschäftsanzug saß am Lenkrad und lachte ausgelassen mit seiner Beifahrerin. Er steuerte sein Coupe näher an den Plymouth heran und folgte ihm. Der Mann entblößte blitzende Goldzähne, lächelte, wedelte mit den feisten Händen. Das Mädchen war dunkelhaarig und schön. Sie erwiderte das Lächeln des Mannes, zog ihre weißen Handschuhe zurecht, strich über ihr Haar und kurbelte dann das Seitenfenster nach oben.
    Er verlor den Plymouth aus den Augen. Ein schwerer Diesellaster schob sich zwischen sie. Verzweifelt überholte er den Lastwagen und fädelte sich vor der Limousine wieder ein. Schließlich schoß sie an ihm vorbei, und für einen Moment waren die beiden Insassen deutlich zu erkennen. Das Mädchen erinnerte an Silvia. Es besaß das gleiche wohlgeformte, kleine Kinn – die gleichen dunkelroten Lippen, die sich beim Lächeln ein wenig öffneten –

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