Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Rosemarie zu, die wieder angefangen hatte zu weinen. Ich dachte an zu Hause und wie wichtig es Mama immer gewesen war, dass ich sauber wurde. Es war mir nur ganz selten ein Missgeschick passiert, und dann hatte sie laut geschimpft. »Schämst du dich nicht, Monika. Ein großes Mädchen wie du macht doch nicht mehr ins Bett.« Und jetzt musste ich vor allen anderen Mädchen Pipi auf den Boden machen. Ich nahm mir vor, auf jeden Fall bis zum nächsten Tag zu warten und dann zu schauen, ob es draußen nicht doch ein Klo gab.
Doch als der Morgen graute, lag ich längst mit zusammengekniffenen Beinen da und betete: »Bitte, lieber Gott, lass mich nicht in die Hose machen, lass mich bitte, bitte nicht …« Ich hielt es nicht mehr aus. Da fiel mein verzweifelter Blick auf einen alten Rohrstuhl, in dessen Sitzfläche ein großes Loch klaffte. Der kaputte Stuhl erinnerte mich an eine Toilette, und so stand ich auf, schob den Stuhl in die Kloecke, zog die lange Hose und das Höschen runter und setze mich darauf. Jetzt hatte ich zumindest das Gefühl, auf einer ganz normalen Toilette zu sitzen. Für einen Moment hätte ich beinahe sogar die anderen Mädchen vergessen, wenn nicht plötzlich ein Kichern meine Versunkenheit gestört hätte. »Guck mal, die Monika«, wisperte es von hier und von dort. Jetzt schämte ich mich. Die Mädchen konnten sich vor Lachen gar nicht mehr beruhigen. »He, das ist gar keine schlechte Idee!«, rief Heide über das Gelächter hinweg. »So haben wir einen festen Platz. Und unsere Haufen decken wir mit Stroh zu, bis wir sie rausbringen können, dann stinkt es auch nicht so.« Es dauerte nicht lange, und ein Mädchen nach dem anderen probierte den Klostuhl aus.
Später am Morgen kam die Frau, nahm den Eimer neben dem Ofen mit und brachte ihn mit Schnee gefüllt zurück. Sie zeigte auf den Ofen. »Wasser kochen«, sagte sie und lächelte aufmunternd. Und wir füllten den Schnee in den Topf und sahen zu, wie er schmolz. Vom ersten heißen Wasser tranken wir jede einen Becher, den Rest benutzten wir, um uns zu waschen. Ich schrubbte mir zuerst die Hände, doch der verkrustete Dreck saß fest auf der Haut. Immer wieder nahm ich Stroh zu Hilfe und rieb damit zusätzlich. Es war bei Weitem nicht genug Wasser für so viele Kinder, die schmutziger waren als die Schweine auf Opas Hof. Aber es tat einfach gut, sich – wenn auch notdürftig – endlich einmal Gesicht und Hände reinigen zu dürfen.
In diesen ersten Tagen im Gulag waren wir Kinder damit beschäftigt, darauf zu lauern, wann es Schnee, wann es Essen und wann es neues Holz gab. Wenn wir in der düsteren Baracke, in die nur wenig Tageslicht fiel, herumsaßen und uns langweilten, begann eine zu singen, und die anderen stimmten ein. Wir erzählten uns von zu Hause, wie schön es dort gewesen war, von den Geschwistern, die zum Teil in anderen Baracken untergebracht waren, und die ersten schlossen Freundschaften und kauerten nun meist zu zweit oder dritt auf einer Bettstatt. Ich freundete mich mit Johanne an. Sie war ein wenig größer als ich und hatte liebe braune Augen. Sie kümmerte sich um mich und tröstete mich, wenn ich weinte. An ihren Rücken gekuschelt, träumte ich nur selten von den Feuerwänden und den Schüssen auf dem Hof. Johanne und ich teilten unser Essen und halfen uns beim Waschen. Mit ihr passte ich nachts auf den Ofen auf, wenn wir an der Reihe waren, denn wir hatten Angst, dass das Feuer ausging, und Streichhölzer hatten wir nicht. In solch einer Nacht brachte sie mir bei, wie ich aus Stroh Zöpfe flechten konnte; das hatte sie mit ihren Schwestern auf dem Bauernhof der Eltern immer gemacht. Und mit der Zeit wurden wir erfinderisch und flochten uns aus dem Stroh Püppchen, kleine Kissen und Matten und summten dazu leise Lieder.
Mit dem Ofen kamen wir Mädchen gut zurecht, doch wohin mit der vielen Asche, die das Feuer zu ersticken drohte? »In die Kloecke!«, rief eine der Größeren. »Aber die Asche muss ganz kalt sein, sonst brennt die Hütte ab!« Ich erschrak. Wie gefährlich Feuer war, das wusste ich. »Hier, der Eimer, darin kann sie kalt werden!«, rief ich. »Und wenn morgens der Schnee reingefüllt wird, ist der Eimer später wieder sauber.«
Wir passten immer gut auf, dass wirklich nur die kalte Asche weggeschüttet wurde.
Unsere Toilettenecke stank mal mehr und mal weniger, es kam darauf an, ob wir das Fenster öffnen konnten oder schließen mussten, weil es draußen mal wieder stürmte. Mehr Probleme als
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