Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
so weit vor, dass ich den ganzen Raum überblicken konnte. Mehrere große Laibe Brot hatte die Frau auf den Tisch gelegt, der Soldat suchte noch einen Platz für den Eimer in seiner Hand. Ob da frisches Wasser drin war? Jetzt stellte er ihn neben dem Ofen ab und gab ein Zeichen, dass wir Kinder mit dem Becher kommen sollten. Schnell sprangen wir alle auf.
»Milch. Es ist warme Milch«, wisperte Eva, deren Namen ich mir hatte merken können. Sie trug ihren gefüllten Becher zu ihrem Platz. Ich stand hinten in der Schlange und dachte weniger an die Milch als an Peter. Und als die Frau die Baracke verlassen wollte, nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte nach meinem Bruder. »Kind geht gut«, gab sie mir zur Antwort, lächelte dabei aber nicht.
»Wo ist er denn?«, rief ich noch, aber da hatte sie mir schon den Rücken zugedreht und war aus der Baracke hinausgetreten. Ich vergaß aufzurücken und stand einen Moment lang ratlos da, meinen leeren Becher in der Hand. Ich glaubte ihr nicht. Wenn es Peter gut ging, warum brachte sie ihn mir dann nicht? Ich war doch seine große Schwester. Und hatte sie nicht gesagt, er sei bald tot? Wann war bald? Die Stimme des Soldaten holte mich zurück aus meinen Gedanken. Er hielt eine Kelle mit Milch hoch. Ich machte einen Schritt nach vorn, streckte ihm den Becher hin und nahm meine Ration in Empfang.
Mit dem Eimer, in dem noch ein Rest Milch war, verschwand der Soldat aus unserer Hütte. Sogleich ging ein großes Palaver los. Zwei Mädchen stritten um einen Brotlaib. Eine der Größeren, es war wohl Hildegard, mischte sich ein und regelte schließlich die Verteilung der Brote, sodass keine von uns leer ausging. Ich saß auf meinem Lager und aß langsam ein kleines Stück von dem Brotklumpen, den mir Hildegard gegeben hatte. Es schmeckte wunderbar, und ich vergaß über das Essen sogar Peter, meine Halskette und meine Tränen. Während ich den ersten Happen so langsam wie möglich im Mund hatte zergehen lassen, stopfte das Mädchen mir gegenüber hungrig den letzten Bissen in sich hinein und hatte ihre Ration alsbald aufgegessen. Ich aber wollte einen Teil von meinem Brot im Heu verstecken, aus Angst, am nächsten Tag wieder hungern zu müssen. Vielleicht habe ich insgeheim auch gehofft, dass die Frau mir Peterchen doch noch bringen würde, und dann wollte ich für ihn etwas zu essen haben.
Mit dem Brot und der warmen Milch in den Bäuchen kehrte Ruhe in der Hütte ein. Es musste längst Schlafenszeit sein, jedenfalls war es schon lange dunkel draußen, und ich wäre sicher auch gleich wieder eingeschlafen, wenn mich nicht aufgeregtes Geflüster wachgehalten hätte. Und dann verstand ich auch, worum es ging. Rosemarie, eines der kleineren Mädchen, das einen viel zu langen Wintermantel trug, der bei jedem Schritt über den Boden streifte, musste nötig zur Toilette. Aber eine solche gab es hier nicht. Und die Tür nach draußen war versperrt, man bekam sie auch mit heftigem Ziehen und Rütteln nicht auf. Rosemarie klopfte erst gegen die Tür, dann schlug sie dagegen und rief nach den Soldaten, aber niemand kam, um nach uns zu schauen. Fieberhaft überlegten wir alle, was zu tun sei, denn es war nur eine Frage der Zeit, bis auch wir anderen zum Klo müssten.
»Lasst uns doch eine Ecke der Baracke als Toilette benutzen«, schlug Heide vor. »Wir müssen nur etwas zusammenrutschen!«
»Aber das stinkt doch. Wie auf dem Lastwagen!«, rief eins der kleineren Mädchen.
»Und wenn die Soldaten das merken?«, fragte Ingrid und schaute angstvoll in die Runde.
»Was sollen wir denn sonst machen?« Heide stemmte die Hände in die Hüften.
»Ich halte es nicht mehr aus«, sagte Rosemarie jetzt leise, und Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Kommt, ihr da, rutscht ein bisschen mehr zusammen, dann ist die Ecke nahe dem Fenster frei. Wenn wir es öffnen, kann der Gestank besser abziehen. Los, bringt alle etwas von eurem Stroh.«
Wir anderen taten abermals, was Heide sagte. Sie war die Größte. Rosemarie trat von einem Bein aufs andere, bis wir alle unser Stroh abgelegt hatten, und dann hockte sie sich in die Ecke, mit dem Gesicht zur Wand, den langen Mantel schützend um sich gebreitet. Ich legte mich auf mein Lager und starrte an die Decke. Ich fand es eklig, in der Hütte auf den Boden machen zu müssen, aber ich wusste auch keine bessere Lösung. Wenigstens lag ich weitmöglichst von der Stelle entfernt. »Putz dir den Popo doch mit Stroh ab!«, rief Hildegard der kleinen
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