Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
im Raum, die Ratten mussten das Brot darin gerochen haben. Die Barackentür stand weit offen, und eine Ratte jagte mit einem Stück Brot im Maul hinaus. »Da ist die Nächste! Raus! Raus!«
Als die Ratten verschwunden waren, kam eins der großen Mädchen und funkelte mich zornig an. Ich duckte mich. »Du hättest uns von deinem Brot abgeben sollen, jetzt haben es die Ratten gefressen!«, rief es erbost.
»Es tut mir leid«, sagte ich leise.
»Lasst die Monika in Ruhe, sie kann doch nichts dafür, dass wir alle kein Brot mehr haben. Und dass die Ratten immer wiederkommen, ist auch nicht ihre Schuld.« Nur Eva hielt zu mir. Mit ihr teilte ich das allerletzte Stück Rinde.
Wie erhofft, blieben wir von den Ratten erst einmal verschont. Es gab auch nichts mehr, was unseren oder ihren Hunger hätte stillen können … Wahrscheinlich war die kleine Betty deshalb gestorben. Ihr blasses Gesicht mit den hervorstehenden Wangenknochen zur Wand gewandt lag sie eines Tages da, und wir bemerkten ihren Tod erst einmal gar nicht. Dass ein Mädchen morgens nicht aufstand, kam öfter vor. Doch als sie sich am Nachmittag noch immer nicht geregt hatte, schaute Marianne nach ihr. »Tot«, sagte sie und legte ein Stück Lumpen über ihr Gesicht. Wir ließen den Leichnam liegen, es fühlte sich keine von uns verantwortlich. Wir hatten so viele Mädchen aus unserer Baracke verloren, es war nichts Besonderes mehr. Ohne Nahrung, ohne Liebe und immer mit dem Tod vor Augen, da stumpft man irgendwann ab. Zumal Bettys Kleider auch keiner anderen passten: Sie war mit Abstand die Kleinste gewesen. Niemand trug sie nach draußen. Doch dann waren eines Nachts plötzlich die Ratten wieder da, huschten um Bettys Lager. Und erst jetzt nahmen wir auch den Gestank wahr, der aus der Ecke mit dem Leichnam kam. In der Dämmerung zerrten wir zu zweit den Kinderkörper an den Beinen nach draußen, der Wind wehte den Lumpen über ihrem Gesicht fort und dort, wo Augen, Nase und Mund gewesen waren, klaffte eine braunrote Wunde. Ich rang nach Luft und würgte zugleich, dann erbrach ich mich in den Schnee.
Wir waren nur noch sechs oder sieben Kinder und zwei, drei, die neu hinzugekommen waren, aber wir fragten nicht, warum oder woher. Eine Gemeinschaft wurden wir nicht; jede kümmerte sich um sich selbst, und nur noch selten lagen zwei auf einem Lager und erzählten sich etwas oder nahmen sich in den Arm. Auch Eva war schon lange nicht mehr zu mir herübergekrochen, wir hatten wohl keine Kraft mehr, den anderen zu trösten. In Gleichgültigkeit versunken, verbrachten wir die sinnlosen Tage. Wir deckten Erbrochenes mit Stroh zu, hatten den Klostuhl wieder in Gebrauch, aber zum Hinauswerfen der Asche-Kacke-Stroh-Mischung konnte sich keine von uns aufraffen. Die meisten von uns hatten übel riechende Geschwüre, die sie sich mit den dreckigen Händen immer wieder aufkratzten. Manchen wuchsen die Lumpen bereits an den offenen Wunden fest. Unsere Fußsohlen waren von schmerzenden, blutigen Rissen gezeichnet, und hätten wir uns die Köpfe nicht mit alten Kleiderresten umwickelt, dann wäre uns wohl das Blut übers Gesicht gelaufen, denn die Läuse richteten uns übel zu. Da half es auch nicht, den geschorenen Kopf in den Schnee zu stecken oder mit Dreck zu bestreichen. Wir waren dem Tod ganz nah.
Inmitten dieser düsteren Wintertage geschah für ein paar Stunden etwas, das mir wie ein Wunder in Erinnerung geblieben ist. Ich saß am Ofen, hatte nach meinen schmerzenden Füßen geschaut, ob auch kein Geschwür daran war, und die vielen roten Stellen mit Wasser bestrichen, als jemand vergeblich versuchte, die Tür zu öffnen. Dann war die Stimme der Frau zu hören. Ich erkannte sie sofort wieder, obwohl sie lange nicht mehr bei uns gewesen war. »Habt keine Angst, bringe euch zu essen«, hörten wir sie rufen. Und dann stieß ein Soldat die zugeschneite Tür mit aller Macht auf, und die beiden brachten einen großen Topf und eine Kiste herein. Der Geruch nach einer gekochten warmen Mahlzeit erfüllte die Baracke. Und tatsächlich: In dem Topf waren dampfende Kartoffeln mit Schale und in der Kiste ein großes Stück Fleisch. Der Soldat ging mit seinem Gewehr nach draußen; nur die Frau blieb, sie lächelte uns an und winkte uns mit unseren Tellern heran. Der Geschmack der Kartoffeln und des Fleisches waren das Schönste, was ich seit Langem erlebt hatte. Und wann ich das letzte Mal etwas Warmes zum Kauen im Mund gehabt hatte, daran konnte ich mich gar nicht mehr
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