Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
erinnern. Die Frau blieb während des Essens bei uns und sang uns ein russisches Lied vor. Sie hatte eine schöne, klare Stimme. Als die Ersten ihre Teller beiseite stellten, weil unsere Mägen viel kleiner waren als unsere Augen, da fragte sie uns nach Kinderliedern. Wir lachten sehr, als sie in ihrem holprigen Deutsch mit uns »Ri-ra-rutsch, wir fahren mit der Kutsch« sang. Danach erzählten wir ihr von den Ratten. Nach den Mädchen, die die Soldaten weggeholt hatten, fragten wir aber nicht. Es wollte wohl keine die friedliche Stimmung zerstören. Die Frau lächelte uns die ganze Zeit freundlich an, und ich musste immerzu auf ihr blondes Haar schauen und dachte seit Langem mal wieder an meine Mama. Ob sie mich noch suchte? Ich war mir nicht sicher. Sie hätte mich doch längst schon abgeholt, dachte ich. »Kinder, müsst die Baracke sauber machen«, sagte die Frau und lächelte auch bei diesen Worten. Wir nickten und lächelten ebenfalls. Womit wir kehren und putzen sollten und wohin das alte Stroh und die Stroh-Asche-Kacke-Mischung unter dem Klostuhl sollte, das sagte sie uns nicht. Als die Frau gegangen war, versteckte jede von uns schnell ihre Essensreste. Vor den anderen und vor den Ratten.
Eines Nachts kam eins der großen Mädchen leise zu mir herübergekrochen. Misstrauisch lauschte ich darauf, was sie mir ins Ohr flüsterte. »Die Soldaten feiern wieder. Dann essen und trinken sie viel. Und die Reste werfen sie auf einen Misthaufen draußen. Wenn du mutig genug bist, komm mit, wir wollen uns dort etwas zu essen holen. Wir sind fünf Kinder, drei aus einer anderen Baracke. Was ist? Machst du mit?« Ich überlegte noch, als sie sagte: »Du musst dich ganz warm anziehen. Es ist frostig draußen.«
»Warst du denn schon einmal dort?«, fragte ich leise. »Ja … ja.« Ihre Stimme schien ein wenig zu zittern. »Aber das ist länger her. Weißt du, wir dürfen uns nicht erwischen lassen. Die Soldaten schießen sofort. Dann bist du tot.«
Diese Worte machten mir alles andere als Mut. »Ich komme mit«, hörte ich mich trotzdem sagen.
Draußen blies ein heftiger Wind, der mir den Schnee ins Gesicht trieb. Ich hatte alle möglichen Lumpen angezogen, die ich auf die Schnelle auftreiben konnte, doch die löchrigen Stoffe konnten die Eiseskälte nicht abhalten; sie zog mir am Körper hinauf in jedes einzelne Glied. Mit mir waren wir nun sechs Kinder. Ein Junge, ich wusste, dass er Gert hieß, sagte zu mir und zwei anderen Mädchen, die anscheinend auch das erste Mal dabei waren: »Merkt euch den Weg. Wenn was passiert, wartet nicht auf die anderen, dreht sofort um, und lauft zurück. Kapiert?« Wir nickten. Paarweise huschten wir im Schatten der Kinderbaracken über das Gelände. Das Mädchen aus meiner Baracke hatte mich an die Hand genommen. Es griff immer mal wieder nach, damit meine kleine Hand nicht aus ihrer rutschte. Für einen kurzen Moment dachte ich, Mama würde neben mir herlaufen.
Die Musik und das laute Lachen waren trotz des Schnees schon von Weitem zu hören. Gert gab uns ein Zeichen, dass wir langsamer werden sollten, und zeigte auf die Rückseite der ersten Soldatenbaracke. Hintereinander schlichen wir nun von Baracke zu Baracke, bis der große, schneebedeckte Misthaufen vor uns auftauchte, der sich unter einem weit geöffneten und hell erleuchteten Fenster befand. »Mist«, zischte eins der großen Mädchen. »Wie sollen wir bei dem Schnee etwas finden?«
»Ich seh nach«, sagte Gert und war auch schon zu dem Schneehügel gelaufen, unter dem sich der Misthaufen verbarg, und kletterte geschickt hinauf. Als er oben war, hockte er sich hin und schien im Schnee zu wühlen. Aber dann winkte er uns zu, wir sollten kommen, und das Mädchen ließ meine Hand los. Jetzt rannten wir anderen wie um die Wette und kletterten den zugeschneiten Misthaufen hinauf. Wir hatten große Mühe, vorwärtszukommen, denn mit Lumpen lässt sich ein Schneeberg nicht gut erklimmen. Doch der Wille schien uns behilflich zu sein, anders kann ich mir nicht erklären, wie wir oben ankamen, ohne hinabzukullern. Auf der Kuppe des Misthaufens war der Schnee durch die Wärme, die aus dem Fenster der Baracke strömte, geschmolzen, und es lagen über ein Dutzend Knochen vor uns, mehrere Brotenden und jede Menge Kartoffelschalen. Die anderen nagten schon die ersten Fleischreste ab, während ich noch unsicher über den Schnee am Rand kroch. Dann hielt mir ein Mädchen einen Knochen hin, und ich griff ebenfalls zu und knabberte das
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