Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
wieder zu den toten Fischen?«, fragte ich und sah von Regina zu Schwester Maria. »Aber nein, mein Kind. Tote Fische gibt es hier nicht. Du bist nicht mehr in Russland. Du bist jetzt in Sicherheit, und ich und die anderen Schwestern, wir kümmern uns um euch Kinder, bis wir eure Eltern gefunden haben. Auch deine Mutter suchen wir.«
Ich war froh über Schwester Marias Worte. Es stimmte ja, ich war nicht mehr in Russland. Doch die Erinnerung an das Erlebte kam immer wieder zurück, so als wäre Russland überall. »Darf Regina denn heute Nacht bei mir im Bett schlafen?«, fragte ich leise, und nach dem Nicken von Schwester Maria kroch Regina auch schon unter meine Decke.
Obwohl ich nun meine Freundin bei mir hatte und es uns Kindern im Heim bei den Ordensschwestern gut ging – wir hatten jedes ein sauberes Bett, bekamen drei Mahlzeiten pro Tag, der Arzt schaute regelmäßig nach uns, und es gab eine saubere Toilette –, schien meine Seele nicht gesund zu werden. Sie war wohl noch immer im Gulag, und es würde noch viel Zeit und Kraft brauchen, bis sie zurück in die Heimat fand.
Ich verkroch mich bei Tag und bei Nacht oft unter meinem Bett, versteckte in allen möglichen Ecken Lebensmittel, statt sie zu essen, fühlte mich ständig schmutzig und elend und blieb am liebsten für mich. Dann summte ich Kinderlieder für meine Puppe Elsa.
Seltsam fand ich die Besucher im Heim. Es kamen von Tag zu Tag mehr Paare, die sich uns Kinder anschauten. Zuerst dachte ich, sie würden ihre verlorenen Kinder suchen, aber dann erfuhr ich, dass sich viele von ihnen neue Kinder suchten. Ob sich meine Mama auch neue Kinder ausgesucht hatte? War sie deshalb noch nicht hergekommen, um mich zu holen? Es waren schon einige Kinder aus dem Heim abgeholt worden, aber nur wenige von ihren leiblichen Eltern. Auf die Idee, dass auch ich in eine fremde Familie vermittelt werden könnte, kam ich nicht. Umso überraschter war ich eines Vormittags, als ich draußen auf einer Bank im Garten bei Schwester Maria saß und eine kleine Amsel in einem Baum beobachtete – Schwester Maria kannte fast jede Vogelart – und plötzlich ein Ehepaar vor uns stand. Schwester Maria begrüßte die beiden und bot ihnen an, sich zu uns zu setzen. Ich beachtete das Paar nicht weiter, sondern schaute der Amsel zu, die einen Wurm im Schnabel hielt. Und plötzlich sah ich den Vogel auf einem Zaun sitzen, auf dem Stacheldrahtzaun des Lagers. Ich stand wie so oft im Sommer an dem Zaun, und wie immer hatte ich großen Hunger. Der Vogel beugte sich vor, und im nächsten Moment fiel mir der Wurm vor die Füße. Iss, du brauchst es nötiger als ich, schien mir der Vogel sagen zu wollen, und ich hob die rosabraune Kreatur auf, teilte sie in zwei Stücke und wollte dem Vogel eine Hälfte zurückgeben, aber da breitete er schon die Flügel aus und flatterte davon. »Sie können Monika mitnehmen«, hörte ich Schwester Maria in meinen Tagtraum hinein sagen. Erschrocken zuckte ich zusammen. »Natürlich nur, wenn Sie wollen«, fügte sie schnell noch hinzu. Und sie hätten ja bereits ausführlich gesprochen, und sie wisse, dass ich es auf dem Hof gut haben würde. »Glauben Sie mir«, sagte Schwester Maria und griff nach meiner Hand, »dieses Kind wird hier sonst vor Kummer sterben. Sie isst zu wenig, nimmt nicht an den Spielen der anderen Kinder teil und hat eine große Traurigkeit in sich.« Ich bräuchte eine Familie, die sich meiner annimmt. Jetzt schaute sie mich an und lächelte aufmunternd. Einen Bruder zu haben, würde mir sicher gefallen. Der Mann und die Frau betrachteten mich mit gesenkten Köpfen. »So ein armes Ding«, sagte die Frau zum Abschied. Sie würden es sich gern überlegen, fügte der Mann hinzu, schließlich hätten sie sich immer eine Tochter gewünscht. Die Amsel im Baum fing an zu zetern. Von dem Wurm war nichts mehr zu sehen.
Eine neue Familie. Ein Vater, eine Mutter und ein Bruder. Schwester Maria erzählte mir, dass die Familie Koehler auf einem schönen Gut wohne, mit anderen Familien und Kindern zusammen. Es gäbe viele Tiere auf dem Hof, Wiesen und Felder. Die Pflegeeltern würden mich wie eine Tochter annehmen, und ich dürfe so lange bei ihnen leben, bis meine Mama gefunden sei.
Aber wie wird man wohl zu einer Familie, mit einem geliehenen Kind, und zudem noch mit einem Kind, das im Gulag großgeworden ist? Was braucht dieses Kind, das mehr Tier ist als Mensch – wie treibt man ihm den Gulag aus? Es würde sicher nicht leicht mit mir
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