Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
auch ich hatte ein Stück Kuchen auf dem Teller. Doch ich aß nur wenig, denn ich wollte mich an diesem Tag auf gar keinen Fall übergeben müssen.
Und so war ich am Abend glücklich über die schönen Geschenke und stolz, dass ich ohne Zwischenfall mit den anderen Kuchen und Abendbrot gegessen hatte, und ich war sehr müde. Ich wollte allen »Gute Nacht« wünschen und nur schnell in mein Bett, aber da sagte der Pflegevater: »Heute schläfst du bei Mutti und mir im Bett. Dann schlafwandelst du nicht.«
Mir stockte der Atem. Ich sollte was ? Ich wusste nicht, wie er sich das vorstellte, wo sollte ich schlafen?
»Hol dein Nachthemd aus deinem Zimmer, und dann bringe ich dich ins Schlafzimmer«, sagte die Pflegemutter.
Mit der kleinen Vase, in der die Rose stand, ging ich zum Kinderzimmer. Ich wollte auf keinen Fall bei den Pflegeeltern im Bett schlafen. Die Tränen strömten mir über die Wangen. Dich hat man abgepflückt und du wirst sterben, wenn du kein Wasser hast. Und ich werde sterben, wenn ich in das Bett von Mutti und Vati muss, dachte ich. Im Zimmer stellte ich die Vase ans Fenster. »Liebe Rose«, flüsterte ich, »bitte sag meinem Papa, dass ich ihn vermisse und dass ich heute nicht mit ihm sprechen kann. Aber wenn ich heute Nacht sterbe, dann komme ich zu ihm. Dann brauche ich auch keine Angst vor Vati zu haben.«
»Was machst du da?« Bernhard stand in der Tür und schaute mich verwundert an.
»Wenn ich morgen tot bin, musst du dir eine neue Schwester suchen«, sagte ich zu ihm.
Bernhard schaute mich fragend an. Dann war die Stimme der Pflegemutter zu hören, die mich rief. Widerwillig zog ich mein Nachthemd aus dem Bett hervor und ging zu ihr.
Mit geschlossenen Augen, aber hellwach, lag ich unter der riesigen Daunendecke im Elternbett und lauschte auf die Geräusche in der Wohnung. Stühle wurden gerückt, Wasser wurde aufgedreht und Rohre rauschten, Geschirr wurde abgewaschen. Ich begann unter der dicken Decke zu schwitzen und schlug sie mehrmals zurück, doch im Zimmer war es kalt, sodass ich ohne Decke sofort anfing zu frieren. Einmal schlich ich zur Tür und wollte mich hinausstehlen, aber dann hörte ich Schritte und sprang zurück ins Bett.
Als die Tür aufging, wagte ich nicht, mich zu rühren oder die Augen zu öffnen; ich tat, als würde ich tief und fest schlafen. Das leise Geflüster der Pflegeeltern verstand ich nicht, zu laut waren auch die vielen Gedanken in meinem Kopf. Was sollte ich jetzt tun? Warum half mir denn niemand? Würde er mich schlagen? Ich wollte hier nicht sein! Die Decke wurde zurückgeschlagen, und jetzt konnte ich nicht anders, als die Augen einen ganz schmalen Spalt weit zu öffnen. Im Schein der Nachttischlampe sah ich den Pflegevater in seinem Nachthemd ins Bett steigen. Er sah noch dünner aus als sonst, fast knochig. Könnte ich nur unbemerkt von ihm wegrutschen – aber ich war nicht in der Lage, mich zu bewegen, solche Angst hatte ich. Hoffentlich berührt er mich nicht!, hämmerte es in meinem Kopf. Bitte, bitte, lieber Gott, lass ihn nicht an meinen Körper kommen. Während ich stumm flehte, kam auch die Pflegemutter ins Bett, und die Lichter wurden gelöscht. Der Pflegevater wälzte sich ein paar Mal hin und her, dann setzte ein leises Schnarchen ein. Die Pflegemutter lag still neben mir, ihr leiser Atem war kaum zu hören. Auch von ihr wollte ich nicht berührt werden, sodass ich mich so schmal wie möglich machte und die Arme über meiner Brust übereinanderlegte. Angespannt horchte ich auf die Geräusche und fand noch lange keinen Schlaf.
Am nächsten Morgen erwachte ich wie immer in meinem Bett. Bernhard sah mich verwundert an, und da kam auch schon die Pflegemutter ins Zimmer gestürzt. »Monika, was machst du denn hier? Wir haben dich schon überall gesucht. Du solltest doch bei uns schlafen.« Die Pflegemutter guckte überrascht. Dann rief sie: »Arthur, es ist alles in Ordnung, sie ist in ihrem Bett!«
Nichts war für den Pflegevater in Ordnung; in den nächsten Nächten musste ich wieder zu ihnen auf die Besucherritze. Mir bekamen diese Nächte gar nicht, denn ich fühlte mich am Tag darauf jedes Mal matt, weil ich die meiste Zeit wachgelegen hatte. Ich war zu nichts zu bewegen, mochte weder etwas essen noch spielen und saß nur in der Küche beim Kätzchen.
»Wenn du willst, dass es Monika wieder besser geht, dann lass sie in ihrem Bett schlafen, Arthur. Das Kind braucht seinen ungestörten Schlaf. Und das Einnässen und Schlafwandeln
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