Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
ganzer Körper wurden steif, sodass ich nur mit Mühe einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Die Kirche war bereits gut gefüllt, und die Leute in den Bänken lächelten mich an und grüßten Vati höflich. Als wir in der ersten Reihe Platz nahmen, erklang laute Orgelmusik, und der Pfarrer in seinem langen Gewand erschien.
Ich schaute ständig, was Bernhard und die anderen Kinder machten, und tat es ihnen nach. Jetzt faltete ich meine Hände, während der Pfarrer zu sprechen begann.
Ich hätte ewig so dasitzen und der Musik und den Worten lauschen können, doch auf einmal stupste mich der Pflegevater an, und ich musste mit ihm und der Pflegemutter nach vorn zum Taufbecken gehen.
»Monika, mein Kind«, sagte der Pfarrer, »weißt du, was dein Name bedeutet?« Obwohl ich es wusste, antwortete ich nicht. »Ich werde es dir verraten, Monika heißt ›die Einzige‹. Und du wirst heute auf diesen Namen getauft.«
Er sagte noch, ich dürfe jetzt immer in die Kirche kommen und wenn ich einmal Schutz suchen würde, solle ich zu ihm und zum lieben Gott sprechen. Dann legte er seine Hand auf meinen Kopf und drückte ihn leicht nach vorn über das Becken. »Ich gieße dir jetzt etwas Taufwasser über deinen Kopf«, erklärte er. Ich bekam es vor lauter Aufregung kaum mit, da war es schon geschehen, und er tauchte seine Finger in ein Schüsselchen mit Öl und machte auf meiner Stirn ein Kreuzzeichen und sagte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, ich lege dieses Kind in deine Hände …« Er sprach noch zu den Pflegeeltern, die meine Taufpaten wurden, und sie mussten ihm versprechen, dass sie immer auf mich aufpassen würden. So verstand ich es zumindest. Dann gaben sie sich alle die Hände, und der Pfarrer legte seine nochmals auf mein Haar, gab mir ein Buch und sagte abschließend: »Möge Gott mit dir sein, kleine Monika, du Einzige.« Jetzt strahlte ich ihn an, und er schüttelte auch mir die Hand. Die Pflegeeltern und ich gingen wieder zu unseren Plätzen, und dann hoben alle an, gemeinsam das Vaterunser zu beten, dessen Anfang auch ich schon mitsprechen konnte. Im Anschluss erklang abermals Orgelmusik, zu der alle Kirchenbesucher feierlich aus der Kirche auszogen.
Erst nachdem mir Tante Ida, ein paar Nachbarn und auch wildfremde Menschen die Hände geschüttelt und mir gratuliert hatten, gingen wir nach Hause. Plötzlich fiel mir ein, dass Tante Frieda uns nicht wie versprochen abgeholt hatte, und ich wollte schon die Pflegemutter nach ihr fragen, als wir um die Ecke in unsere Straße einbogen und ich Tante Frieda auf dem Bürgersteig vor dem Haus stehen sah. Ich winkte ihr zu, und sie hob ebenfalls eine Hand; in der anderen schien sie etwas zu halten, das ich auf die Entfernung nicht erkennen konnte. Doch dann, wenige Meter vor ihr, sah ich eine wunderschöne und üppig blühende rosafarbene Rose.
»Wo hast du die denn her? Es gibt im Garten doch gar keine Rosen mehr!«, rief ich und stürmte auf Tante Frieda zu.
»Ich gratuliere dir zu deiner Taufe, mein Kind. Diese Rose habe ich für dich in der Stadt gekauft. Riech mal, sie riecht wie aus Muttis Rosenbeet.« Und das stimmte, ich wollte meine Nase am liebsten gar nicht mehr aus der Blüte hervorholen.
»Jetzt kommt aber rein, ihr beiden!«, rief der Pflegevater, und tatsächlich standen nur noch Tante Frieda und ich auf dem Bürgersteig. Rasch gingen wir den anderen hinterher ins Haus und die Treppe hinauf, wo uns Harmoniummusik empfing. Das Instrument mit den vielen Tasten und einem Hocker davor stand im Esszimmer, und die Pflegemutter hatte schon häufiger darauf gespielt, aber nur selten durften wir ihr dabei zusehen. Jetzt standen alle Türen der Wohnung weit offen, das Harmonium schallte feierlich durchs Haus, und es roch nach Kaffee und Kuchen.
Der große Esstisch war mit dem guten Geschirr eingedeckt, in der Mitte standen Blumen, und um meinen Teller hatte Tante Frieda lauter kleine Blütenblätter gestreut. »Der Teller mit den Bonbons und den Plätzchen ist für dich«, sagte Bernhard. »Die Plätzchen hat Mutti gebacken.«
Ich war so erstaunt, dass ich nur nicken und gucken konnte. Und als Tante Frieda mir auch noch einen glänzenden roten Apfel schenkte, konnte ich die Tränen nicht mehr hinunterschlucken.
»Jetzt trinken wir schön Kaffee!«, rief die Pflegemutter, als sie zu Ende gespielt hatte, und alle nahmen ihre Plätze ein, und der Pflegevater sprach ein Tischgebet.
Die Tassen, Löffel und Gabeln klapperten, und
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