Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
ich dir erst einmal ein Brot mit Rübenkraut und eine warme Milch. Und dem Vati sagen wir, dass ich dich rausgelassen habe.« Ich nickte erleichtert.
Die wenigen Tage bis Weihnachten blieb ich von Prügel und Schimpfattacken verschont. Es war eine selten friedliche Zeit. Mit Bernhard und Tante Friedas Kindern zusammen bastelte ich Papiersterne, und die Pflegemutter und Tante Frieda erzählten uns vom Christkind und dass es bald einen Weihnachtsbaum gäbe, den Vati immer selber schlage und sogar schmücke. »Und wenn am Baum ein paar Äste fehlen, dann holt er einen Schrauber und setzt einfach ein paar Zweige ein!«, rief Bernhard, und die Frauen lachten.
Abends in meinem Bett versuchte ich mich daran zu erinnern, wie Weihnachten bei uns zu Hause gewesen war … und wurde traurig. Ich wollte so gern Bilder von Plätzchentellern, dem Weihnachtsmann und dem Christkind und von einem geschmückten Weihnachtsbaum vor mir sehen, von Mama, wie sie alles vorbereitete, von Oma und Opa, die zu Besuch kamen – aber mein Kopf blieb jedes Mal leer.
So blieb es auch an Heiligabend, als das Glöckchen läutete und Bernhard und ich endlich aus unserem Zimmer ins Esszimmer durften, wo ich mit großen Augen den wunderschönen Tannenbaum bestaunte, an dem Kerzen brannten und glänzende, kleine rote Äpfel, Nüsse, süße Zuckerkringel und Holzfigürchen hingen. Ein kleiner Engel mit Schlitten, ein Baby in einem Halbmond und Schaukelpferde. Und lauter silberne Lamettafäden. Mutti begann O Tannenbaum auf dem Harmonium zu spielen, und Vati und Bernhard sangen dazu. Ich schaute ganz versunken auf die Krippe unter dem Baum und die Geschenke vom Christkind. Welches wohl für mich war?
Doch auf die Bescherung musste ich noch warten; erst einmal nahmen wir am festlich gedeckten Tisch Platz, und oje, mein Blick fiel auf die Silberplatte mit dem großen gebratenen Tier zwischen den Schüsseln mit Kartoffeln, Rotkohl und Apfelmus.
Mutti nahm meinen Teller und legte mir von allem ein wenig auf. »Was ist das für Fleisch?«, fragte ich leise.
»Das ist die Gans, die du nicht mit mir schlachten wolltest«, sagte der Pflegevater ungerührt.
»Ich hab gar keinen Hunger«, sagte ich so leise, dass es kaum zu hören war.
Mutti neben mir beugte sich zu mir herüber. »Du musst wenigstens probieren, andere wären froh, wenn sie heute Gänsebraten auf dem Tisch hätten.«
Ich stocherte auf dem Teller herum und aß dann erst die Kartoffel, dann den Rotkohl und das Apfelmus. Das Fleisch schaute ich noch eine Weile an. Dann sagte ich laut: »Gut, ich werde das Gänsefleisch essen. Die Ratten hätte ich auch gegessen, wenn wir eine gefangen hätten. Und die hätten wir nicht mal braten können.«
Alle schauten mich entsetzt an. »Sei still und iss.« Der Pflegevater hielt seinen Blick dabei auf seinen Teller gerichtet.
Bereits beim ersten Bissen Fleisch musste ich würgen und durfte den Rest auf dem Teller liegen lassen.
Nach dem Abwasch, bei dem Bernhard und ich Mutti halfen, bekamen Bernhard und ich endlich die in hübsches Papier eingewickelten Geschenke. Jeder drei. Aber dann wurden wieder erst Weihnachtslieder gesungen. Ich konnte es kaum erwarten, meine Päckchen auspacken zu dürfen, und hätte das Papier am liebsten gleich aufgerissen. Nach dem Lied Stille Nacht sagte Mutti, jetzt dürften wir auspacken, aber vorsichtig, damit sie das Papier noch einmal verwenden könne. Behutsam zupfte ich an dem ersten Geschenk vor mir, das das größte auf dem Tisch war. Und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als ich einen wunderschönen dunkelblauen Mantel mit weichem Fell vor mir liegen hatte. »Genauso einen Mantel hatte meine Mama!«, rief ich und als aus den anderen beiden Paketen auch noch ein Muff aus Fell und Winterstiefel zum Vorschein kamen, konnte meine Freude nicht größer sein. »Gehen wir morgen spazieren? Gehen wir spazieren?«, fragte ich immer wieder.
»Morgen gehen wir mit Tante Frieda und den Kindern zur Weihnachtsmesse, da darfst du die neuen Sachen anziehen.« Ich umarmte die Pflegemutter stürmisch, wie ich es noch nie getan hatte. Und sie lachte mich so herzlich an wie noch nie. Dem Pflegevater gab ich die Hand und machte einen Knicks. Er lächelte und nickte. Dann las er uns noch eine Weihnachtsgeschichte vor und wenn uns jemand durch das Fenster gesehen hätte, er hätte uns wohl für eine richtige Familie gehalten.
Im neuen Jahr war bei Tisch häufig die Rede von meiner Kommunion und wann ich denn endlich zur Schule
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