Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
wächst sich sicher aus.« Dank Tante Friedas Worten durfte ich nach einiger Zeit endlich zurück ins Kinderzimmer.
Jetzt freute ich mich sogar ein wenig auf Weihnachten. Es wurden Plätzchen und Stollen gebacken, und im ganzen Haus roch es nach dem Gebäck und weihnachtlichen Gewürzen.
»Monika, komm mal mit. Ich brauche deine Hilfe bei der Weihnachtsgans«, sagte der Pflegevater eines Morgens nach dem Frühstück. Ich ahnte nicht, was auf mich zukam, und ging neugierig mit ihm in den Gänsestall. Dort fing der Pflegevater eines der Tiere ein, ergriff ein Messer, das er bereitgelegt hatte, zeigte auf eine Schüssel und sagte: »Die hältst du, während ich die Gans schlachte. Fang damit das Blut auf. Und lass nicht so viel danebengehen.«
Ich starrte einen Moment lang auf die Gans unter dem Arm des Pflegevaters, und nach und nach dämmerte mir, was nun geschehen sollte. Ich wollte Nein rufen, das mache ich nicht, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Abrupt wandte ich mich um und lief über den Hof zurück ins Haus. Doch wo sollte ich mich verstecken? Da fiel mir Tante Ida ein, und ich rannte zu ihr. Schon ein paar Mal war ich allein bei der alten Dame gewesen und hatte ihr mein Leid geklagt, wenn ich wieder einmal ausgeschimpft oder mit dem Teppichklopfer geschlagen worden war. »Tante Ida, ich will nicht, dass die Gans getötet wird!«, rief ich, als sie mir die Tür öffnete.
»Komm erst einmal rein, Kind. Du bist ja ganz außer dir. Was ist denn jetzt schon wieder?«
»Vati will die Gans töten. Und ich soll das Blut auffangen. Aber das mache ich nicht.«
»Das ist auch keine Arbeit für ein Kind. Was denkt sich der Arthur nur dabei? Warte, ich zieh mir nur schnell Mantel und Schuhe an, und dann geh ich mal mit rüber.«
Der Pflegevater traute sich in Gegenwart der alten Dame wohl nicht, mit mir zu schimpfen, jedenfalls wunderte es mich, dass er mich, wenn auch grummelnd, in Ruhe ließ. Ich hatte jedoch aus einiger Entfernung zuzuschauen, wie er der zappelnden Gans in den Kopf stach. Das Blut floss in die Schüssel, die Tante Ida darunter hielt. Mir war übel.
Anschließend rupfte der Pflegevater dem leblosen Tier die Federn aus und band die nackte Gans mit einem Strick kopfüber an einen Balken. »Die nehme ich nachher mit ins Kühlhaus«, sagte er zu Tante Ida. »Lass uns erst mal in der Küche einen Kaffee trinken.« Mich beachtete er nicht mehr. Zumindest bis Tante Ida nach Hause gegangen war. Die Tür war noch nicht ganz hinter ihr ins Schloss gefallen, da packte er mich am Kragen und zog mich hinter sich her durch den Flur und die Treppe hinunter in den Keller.
»Wenn ich etwas anordne, dann hast du zu hören. Du bleibst jetzt so lange hier, bis du das verstanden hast. Also, denk gut darüber nach.«
Er wollte mich doch wohl nicht allein in dem kalten, dunklen Keller zurücklassen? Schnell lief ich ihm hinterher und rief: »Ich tu jetzt immer alles, was du sagst. Bestimmt, aber bitte, bitte, sperr mich hier nicht ein. Bitte, bitte nicht! Du kannst mich auch schlagen.« Mit einem Knall ließ er die Kellertür vor meiner Nase ins Schloss fallen, dann hörte ich, wie von außen der Schlüssel umgedreht wurde. Ich trommelte wie wild gegen die Tür und flehte, dass er mich doch rauslassen solle, aber nichts passierte. Irgendwann sackte ich auf den Stufen zusammen und ließ die Tränen laufen. Da war das leise Miauen der Katze zu hören, die sich anscheinend im Flur vor der Kellertür niedergelassen hatte. »Wenigstens du lässt mich nicht allein«, flüsterte ich und schniefte.
Die Stufen aus Stein und die Kellerwände waren eiskalt, und oben auf der Treppe war es stockdunkel. Unten hingegen kam anscheinend noch etwas Licht durch ein Fenster herein. Also ging ich die Treppe langsam hinunter und sah mich vorsichtig um. In dem langen Gang hingen breit gespannte Spinnennetze an der Decke, es roch nach Feuchtigkeit und Dreck. Mir schlotterten Arme und Beine vor Kälte, und so tappte ich unbeholfen und zähneklappernd vorwärts, die Arme fest um mich geschlungen. Im ersten Keller lag ein hoher Berg Kohlen; ich erkannte die schwarzen Dinger sofort, weil mit ihnen die Öfen in der Wohnung beheizt wurden. Der Kohlenberg ragte bis zu einem kleinen, verstaubten Fenster hinauf, durch das eine handbreit Schnee und darüber Himmel zu sehen waren. In diesem Kellerraum hingen die Spinnweben nicht nur an der Decke, sondern auch an den Wänden, sodass man sie greifen konnte, wenn man wollte. Zögernd ging ich in
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