Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Dahlhoff
Vom Netzwerk:
Hügel und kroch in das Erdloch. Gekrümmt blieb ich dort liegen, bis es Abend wurde.
    Sicher suchte man nach mir und rief meinen Namen, aber ich nahm nichts wahr und fühlte mich wie benommen. Erst als die Nacht helle Sterne an den Himmel zeichnete, krabbelte ich aus meiner Höhle hervor und setzte mich auf. Ich musste mit Papa sprechen, dem Einzigen, dem ich alles sagen konnte, dem Einzigen, dem ich vertraute. Doch als ich ihm von dem Lehrer und den russischen Worten erzählte und dass der Lehrer so ähnlich wie die Soldaten roch, überwältigte mich die Übelkeit erneut, und abermals musste ich spucken und würgen. Später lag ich mit dem Daumen im Mund auf dem Rücken und schaukelte mich in den Schlaf.
    »Monika, komm doch nach Hause, du brauchst keine Angst zu haben, niemand wird dir etwas tun.« Es war Bernhards Stimme, die im Morgengrauen zum Hügel hinüberschallte. Ich hob den Kopf und sah das Licht einer Laterne, die über die Wiese getragen wurde.
    Ich fasste all meinen Mut zusammen und kletterte von dem Hügel hinunter und ging Bernhard entgegen.
    »Wo hast du dich bloß wieder versteckt?«, fragte er. Dabei wusste er, dass ich es ihm nicht verraten würde.
    »Ich habe Angst. Ich will nicht geschlagen werden.«
    »Das wirst du auch nicht. Herr Teuber war schon bei Vati und hat ihm alles erzählt.«
    »Aber dann wird er mich jetzt schlagen. Ich habe mich auf das Schulkleid übergeben müssen.«
    »Aber deshalb wird er dich nicht schlagen. Wirklich nicht. Komm mit. Du musst dich auch waschen. Du stinkst …« Als er das sagte, lachte Bernhard und stupste mich in die Seite.
    Ich bekam diesmal tatsächlich keine Prügel, sondern wurde gebadet, bekam eine warme Milch und dann setzten sich die Pflegeeltern mit mir an den Küchentisch und fragten, was passiert sei. Und nachdem ich es ihnen erzählt hatte, sagte ich, dass ich Angst hätte, ich müsste wieder nach Russland. Und dass ich nie wieder in die Schule gehen wollte. Die Pflegeeltern sahen sich an. »Du kannst erst einmal zu Hause bleiben, vielleicht hätten wir dich doch lieber erst nach den Sommerferien dorthin schicken sollen. Auf die paar Wochen kommt es ja nicht an.«
    Ich dachte, damit wäre das Thema Schule erst einmal erledigt. Doch am nächsten Tag besuchte mich ein Mädchen aus meiner Klasse, die mir schon wegen ihrer geringen Größe aufgefallen war, denn sie war die Einzige in der Klasse gewesen, die mich nicht überragt hatte. Mechthild zeigte mir, was sie am Morgen durchgenommen hatten, und wollte nun jeden Mittag vorbeikommen, so hatten es meine Pflegeeltern mit ihrer Mutter vereinbart. Und bald schon freute ich mich auf ihre Besuche, und wir freundeten uns an. Sie erzählte mir, dass sie in einem Chor singe, und fragte, ob ich nicht mal mitkommen wolle. Und so ergab es sich, dass ich bald schon in einer der Chorreihen und schließlich sogar vorn vor dem Chor stand und die Solostimme sang.
    Mechthild fragte immer öfter, wann ich denn endlich wieder in die Schule käme, sie wolle gern neben mir sitzen, und auch die Pflegeeltern redeten mir gut zu, dass ich es noch einmal mit der Schule versuchen solle, für mein späteres Leben wäre das wichtig. Also ging ich nach den Sommerferien erneut zur Schule, blieb aber selten den ganzen Tag dort, weil mich oft eine plötzliche Übelkeit erwischte und ich schon beim geringsten Magengrummeln aus Angst, mich übergeben zu müssen, nach Hause lief. Und die Lehrer, Herr Teuber sowieso, ließen mich auch jedes Mal ziehen. Wahrscheinlich gab es eine Ausnahmeregelung für mich, doch darüber dachte ich als Kind nicht nach.
    Das Leben bei den Pflegeeltern änderte sich durch meinen Schulbesuch nur geringfügig. Ich musste zwar weniger im Haushalt helfen, aber die Samstagsarbeiten und die Arbeit auf dem Hof, das Helfen bei der Ernte, die Albträume, das Schlafwandeln und das gelegentliche Einnässen, das alles blieb, wie auch die Züchtigungen durch den Pflegevater. Hatte ich die Nägel abgekaut, gab es Rohrstockschläge; kam ich nicht pünktlich nach Hause, setzte es Ohrfeigen; war ich heimlich an Mutters Rosenöl gewesen und es war rausgekommen, gab es Schläge mit dem Siebenzagel. Einmal hatte ich unter Tränen Mechthild die blutverkrusteten Striemen auf dem Rücken gezeigt. Sie brachte mich zu ihrer Mutter, die sofort die Polizei verständigen wollte. Aber ich flehte sie an, das nicht zu tun, weil es mir dann noch schlechter ergehen würde. Und als sie in meine angstvollen Augen blickte, versprach sie, es

Weitere Kostenlose Bücher