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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Dahlhoff
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Garten blühten schon die ersten Rosen, und ich entdeckte ein großes Beet mit einer Pflanze, deren rosafarbene Blüten wie Herzen aussahen. Vorsichtig pflückte ich eine Blüte ab. Die wollte ich in mein Buch zum Blütentrocknen legen, das Tante Frieda mir am Morgen geschenkt hatte, damit ich meine Lieblingsblumen auch im Winter anschauen konnte.
    »Welchen Namen hat diese Blume?«, fragte ich Tante Frieda und zeigte ihr die kleine Blüte.
    »Das ist ein Tränendes Herz, mein Kind.«
    Tränendes Herz … ja, aus der rosa Blume kam ein weißer Tropfen hervor.
    Ein Herz schwer von Tränen, das kannte ich nur zu gut. Ich musste häufig weinen. Aber die Tränen fühlten sich nicht immer gleich an. Ich heulte meist vor Schmerz, so jeden Samstag, wenn mich der Pflegevater wieder einmal mit dem Teppichklopfer und dem Rohrstock schlug; in der Baracke hatte ich oft aus Angst weinen müssen, weil ich fürchtete, dass einer der Soldaten kommen und mich mitnehmen würde; hier in Zuchau weinte ich oft nachts, wenn ich mit meinem Papa im Himmel sprach, dann beruhigten mich die Tränen und das Reden; wenn ich mal wieder das Bett eingenässt hatte, liefen die Tränen aus Scham; und nur sehr selten weinte ich aus Freude, wie an meinem geheimen Geburtstag, als Tante Frieda mir den Bratapfel zubereitet hatte.
    Im zweiten Sommer in Zuchau verbrachte ich so viel Zeit wie möglich draußen. Jetzt kannte ich das ganze Grundstück der Koehlers und wenn ich nicht im Haushalt oder auf dem Hof oder Feld helfen musste, konnte ich mich frei bewegen. Dass ich eines Tages wie die anderen Kinder zur Schule gehen sollte, hatte ich fast vergessen. Ich übte schon seit einiger Zeit mit Bernhard das Lesen, Schreiben und Rechnen, und es störte mich nicht, dass wir nur langsam vorwärtskamen. Aber als der Pflegevater eines Tages sagte, ich hätte in der Kirche so fleißig die Texte gelernt, dass der Pfarrer dächte, ich würde auch in der Schule zurechtkommen, war ich mir nicht sicher, ob ich mich freuen sollte. »Wir warten nicht bis nach den Ferien, sondern du gehst ab morgen in die Schule«, sagte er noch. Und die Pflegemutter holte einen Tornister hervor, in dem Bücher, eine Schiefertafel, ein Schieferkasten mit einem Griffel und eine Schwammdose waren. Später im Bett konnte ich vor Aufregung kaum einschlafen und wachte am nächsten Morgen müde auf.
    Als ich jedoch den neuen dunkelblauen Rock, die weiße Bluse und die weißen Kniestrümpfe über dem Stuhl an meinem Bett sah, war ich hellwach. Ein Paar neue blaue Schuhe standen auch da. »Das ist deine Schulkleidung. Heute bringe ich dich zur Schule. Ab morgen wirst du dann mit Bernhard allein gehen.« Die Pflegemutter flocht mir die inzwischen langen Haare zu Zöpfen und band sie am Ende mit hellblauen Schleifen.
    Auf dem Schulhof, den ich bisher noch nie betreten hatte, sondern auf dem ich die Kinder nur ein paar Mal durch den Zaun beobachtet hatte, trugen alle die blaue Schulkleidung. Bernhard lief auf dem Schulhof zu seinen Freunden, und mich brachte Mutti in das Gebäude, wo uns ein Herr begrüßte, der beim Gehen ein Bein nachzog. So etwas hatte ich noch nicht gesehen. »Ich bin Herr Teuber, dein Klassenlehrer«, stellte er sich vor. »Na, du wunderst dich wohl über mein Bein? Ich habe einen Teil davon im Krieg verloren«, erklärte er. »Und nun komm mit. Ich zeige dir, wo deine Klasse ist.« Mutti strich mir über den Kopf und verabschiedete sich.
    Ich bekam einen Platz in der ersten Reihe. Als alle Kinder auf ihren Stühlen saßen, bat mich Herr Teuber, aufzustehen und mich umzudrehen, sodass mich alle sehen konnten. »Und nun sag den Kindern, wie du heißt.«
    »Monika Clausen«, sagte ich.
    »Clasen. Monika Clasen heißt du.«
    »Nein, ich heiße Monika Clausen von Quitzro.«
    »Auf deiner Anmeldung steht Monika Clasen, und so muss ich dich nennen. Und nun setz dich wieder.«
    Ich sagte nichts mehr. Und von nun an hieß ich nicht mehr Clausen und schon gar nicht von Quitzro, sondern Clasen, was mich jedes Mal sehr wütend machte. Viele Kinder hatten auf dem Weg nach Russland vergessen, wie sie hießen, manche waren so klein gewesen, dass sie nicht mal ihre Vornamen wussten. Aber ich hatte immer und überall meinen vollständigen Namen und sogar meine Adresse in Königsberg nennen können. Und jetzt sollte ich auf einmal einen anderen Namen bekommen? Ich verstand es nicht, und ich wollte bei meinem richtigen Namen genannt werden. Er war das Einzige, was mir von zu Hause geblieben war,

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