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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Dahlhoff
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uns einen Moment lang stumm an, dann lächelte er und sagte: »Du bist Monika, du bist das Kind meiner Schwester.«

1955 bis 1958
Jugend in Oberstdorf und Winterberg

    W arum hast du mich nicht gesucht, Mama? Diese Frage hämmerte in meinem Kopf, als ich mit Onkel Werner im Zug von Nürnberg nach Oberstdorf saß. Er hatte mir eine Zeitschrift mit Bildern gekauft, aber ich starrte bloß darauf, ohne etwas wahrzunehmen.
    Nach der Abfahrt in Zuchau – nur der Abschied von Mechthild und Katze ging mir noch nach – hatte Onkel Werner mir von meiner Mutter erzählt, die inzwischen wieder verheiratet war und zwei weitere Kinder bekommen hatte. Thomas sei neun und die kleine Marion zwei Jahre alt. Ich verstand nicht gleich, was das bedeutete; in meinem Kopf herrschte ein völliges Durcheinander. Zum einen war ich vor Freude und Glück ganz selig, dass ich endlich meine Mama wiedersehen würde. Aber dann wirbelte diese eine Frage meine Gedanken immer wieder durcheinander. »Ich weiß nicht, Kind, warum Barbara dich nicht gesucht hat«, sagte Onkel Werner auf mein vorsichtiges Fragen hin. Meine Mama Charlotte ließ sich jetzt bei ihrem zweiten Vornamen rufen. Sie war mir fremd in den Erzählungen meines Onkels. »Sprich mit ihr, sie wird es dir bestimmt erklären können. Weißt du, diese Kriegsjahre und die erste Zeit danach waren für uns alle schwer.«
    Die Jahre, die Onkel Werner meinte, waren meine Gulag-Jahre gewesen. Konnte man diese Jahre als schwere Jahre bezeichnen? Für mich waren sie die Hölle gewesen. Und auch die Jahre bei den Pflegeeltern hatten tiefe Verletzungen in mir hinterlassen. Ich kann wohl sagen, ich habe Unmenschliches erlebt. Die Jahre, von denen Onkel Werner sprach, waren für mich mindestens bleischwer, drückend und noch im Nachhinein eine unglaubliche Last, mit der ich aber nun durch mein Leben gehen musste.
    Ganz allmählich verstand ich, dass ich nicht nur meine Mutter wiedersehen würde, bei ihr leben würde, sondern dass ich in eine neue Familie kam. Eine Familie mit Kindern und einem Vater. Zwei Geschwister – mit der Bezeichnung Halbgeschwister konnte ich nichts anfangen. Und ein Stiefvater, »dein neuer Papa«, wie Onkel Werner gesagt hatte. Wie würden sie mich aufnehmen? Und wie würde ich mich fühlen? In diesem Moment fühlte ich mich noch wie ein Eindringling.
    Vielleicht wäre es Mama lieber, ich wäre nie zurückgekommen? Warum sonst hatte sie unbedingt diesen Beweis haben wollen? Den Beweis, dass ich wirklich ihre Tochter bin. Ich hatte heimlich ein Telefonat zwischen ihr und Onkel Werner mit angehört, in dem er sagte: »Nein, ich sag doch, sie sind braungrün.« Und nach einem kurzen Schweigen: »Ach, Barbara, Augenfarben können sich bei Kindern verändern. Ich bin mir sicher, sie ist deine Tochter. Es ist unsere Monika.« Es war erneut einen Moment lang still, dann: »Nein, das kann ich dem Kind nicht antun!«
    Was konnte er mir nicht antun? Ich meinte zu wissen, was es war, rannte völlig aufgelöst in das Gästezimmerchen und warf mich weinend in die Kissen auf dem Bett. Ich hatte angenommen, Mama wollte mich nun doch nicht sehen.
    Aber dann stellte sich heraus, dass sie erst sicher sein wollte, dass ich ihre Tochter war, bevor sie mich traf. Und der Beweis sollte ein Leberfleck sein. Ein Leberfleck im Schambereich.
    Und ja, diesen Fleck gab es. Aber warum reichte mein Wort nicht aus? Warum verlangte man von mir, dass ich mich vor Tante Maria auszog? Ich mochte nicht, dass sie mich ohne Unterhose betrachtete. Ich konnte das einfach nicht. Im Lager hatte ich mich nie vor den anderen ausgezogen, und im Kinderheim und bei den Pflegeeltern nur widerwillig. Wenn der Pflegevater mich nach dem Einnässen in eine Wanne stecken wollte, war es für mich das Schlimmste, dass er mir mein Nachthemd gewaltsam auszog und mich mit harten Griffen berührte.
    Da ich die ersten Tage in Nürnberg auch noch meine Blutung hatte – was ich der Tante erzählen musste, weil ich Binden benötigte –, wurde über den Leberfleck erst einmal nicht weiter gesprochen.
    »Deine Mama gibt keine Ruhe, Monika«, klagte Tante Maria ein paar Tage später. Wir saßen alle am gedeckten Tisch und hatten das Abendbrot beendet. »Versteh doch, sie will dich nicht wegschicken müssen, wenn du nicht ihre Tochter bist.« Ich sah Tante Maria nur an und sagte nichts. »Ein Leberfleck ist doch nichts, wofür du dich schämen musst, und es wird niemand dabei sein, wenn ich nachschaue. Nur du und ich.« Meine Cousins

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