Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
der russischen Gefangenschaft meine ersten Wochen verbracht hatte, traf ich Kinder, inzwischen Jugendliche, die noch immer dort waren, weil man weder ihre Eltern noch Pflegeeltern für sie gefunden hatte. Aber hatten sie es damit schlechter getroffen? Ich war mir nicht sicher. Doch ich sprach auch nicht über meine zweite Leidenszeit, ich wollte Schwester Maria nicht enttäuschen. Sie freute sich sehr, als sie hörte, dass wir wie sie Nonnen werden und armen Kindern helfen wollten. So war es nach wie vor Mechthilds und mein Plan.
Doch nach diesen Tagen im Kinderheim erwarteten mich in Zuchau unglaubliche Neuigkeiten, die mein Leben in eine andere Bahn lenkten. Die Pflegeeltern hatten einen Brief vom Hamburger Suchdienst bekommen, in dem stand, dass ein gewisser Werner Lange ein Kind namens Monika Clausen suche. Ich schluckte. Konnte nichts sagen, begann vor Aufregung zu zittern, und dann musste ich weinen. Immer weiter weinen. »Es ist nicht sicher, dass dieser Mann dein Onkel ist«, sagte der Pflegevater jetzt. Und es stimmte, dass in den letzten Jahren immer mal wieder Anfragen von Leuten gekommen waren, die ihre Tochter gesucht hatten, und einmal hatte mich ein Ehepaar schon mitnehmen wollen, aber ich beteuerte immer wieder, dass sie nicht meine Eltern seien, und irgendwann sahen sie es ein. Aber nie hatte jemand nach Monika Clausen gesucht. Monika Clausen, das war ich. Der Pflegevater fuhr fort: »Wenn er wirklich dein Onkel ist, dann musst du überlegen, ob du mit ihm gehst. Weißt du, er lebt im Westen. Du wirst wahrscheinlich nicht so einfach zurückkommen können.«
Ich wollte unbedingt mehr wissen: Wer genau dieser Werner Lange war, warum meine Mutter mich denn nicht suchte … Ich war mir immer sicher gewesen, dass sie noch lebte. Oder war das nur Wunschdenken gewesen?
Endlich kam ein weiterer Brief aus Nürnberg. Ich hatte den Namen dieser Stadt nie zuvor gehört.
Verehrter Herr Koehler,
meine Familie und ich sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie Monika bei sich wie eine Tochter aufgenommen haben. Wir haben vor einiger Zeit mit der Suche nach ihr begonnen und sind nun völlig von den Gefühlen überwältigt, da wir unsere Nichte tatsächlich gefunden haben. Ich möchte Ihnen noch ein wenig zu meiner Familie schreiben, damit Sie und Monika sich ein Bild von uns machen können. Ich bin der Bruder von Monikas Mutter. Meine Frau Maria und ich haben zwei Söhne, Achim und Wolfgang, und eine Tochter, sie heißt Marlis. Sehr gern würde ich nach Zuchau kommen und meine Nichte besuchen. Wenn Monika einverstanden ist, möchte ich sie mit nach Nürnberg nehmen. Aber zuvor gibt es sicher sehr viel zu bereden. In der Hoffnung auf ein baldiges Kennenlernen,
Ihr Werner Lange
Der Brief des angeblichen Onkels verursachte große Aufregung im Haus. Einerseits freuten sich alle mit mir, andererseits waren sie wie ich unsicher. Und Tante Frieda und Bernhard wollten mich auch nicht gern ziehen lassen.
Ich selbst blieb scheinbar ruhig, doch tief in meinem Herzen brach ein Sturm los. Warum suchte mich mein Onkel und nicht meine Mutter? Lebte sie nicht mehr? Wie würde die Begegnung mit dem Onkel ablaufen? Und sollte ich mit ihm gehen oder meine Pläne weiterverfolgen, hier in der Nähe Nonne zu werden?
In der Nacht vor seinem Besuch bekam ich heftige Bauchschmerzen, die nicht allein durch die Nervosität zu erklären waren.
»Wenn eine Frau ihre Blutung hat, darf sie nicht in der Suppe mit Petersilie rühren, sonst wird die Suppe schlecht«, sagte die Pflegemutter am nächsten Tag.
»Ekelt sich die Suppe denn vor mir?«, fragte ich.
»Nein.« Die Pflegemutter verzog den Mund wie zu einem Schmunzeln.
Ich hatte in der Nacht zum ersten Mal meine Monatsblutung bekommen und als ich das Blut gesehen hatte, war ich sicher gewesen, ich müsse nun sterben. Die Pflegemutter hatte mir dann am Morgen erklärt, dass ich nun regelmäßig bluten würde. Mehr nicht.
»Du bist ganz blass, Kind«, sagte sie jetzt und rührte weiter im Suppentopf. »Am besten legst du dich noch ein bisschen hin, ich bringe dir gleich eine Wärmflasche für den Bauch und wecke dich rechtzeitig. Herr Lange kommt ja erst gegen Abend.«
Ich war froh, mich zurückziehen zu können, und schlief trotz der vielen Gedanken sogar ein.
Der Mann, der an meinem Bett stand, als ich die Augen aufschlug, trug einen feinen braunen Anzug, ein weißes Hemd und eine zum Anzug passende Krawatte. Er hatte wie ich ein volles Gesicht und blonde Haare wie meine Mama. Wir sahen
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