Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
nicht zu tun.
Immer öfter ging ich zum Beten mit Mechthild in die Kirche, und auch die Gottesdienste besuchten wir regelmäßig, auch weil unsere Kommunion bevorstand. Und eines Tages, nach einem Kirchenbesuch, beschlossen wir beide, Nonnen in einem Kinderheim zu werden. Wir wollten später anderen Kindern helfen, die ihre Eltern verloren hatten und in Kinderheimen aufwachsen mussten. Mechthilds Vater war ebenfalls im Krieg gefallen. Die Pflegeeltern und Mechthilds Mutter hatten nichts gegen unsere Kinderpläne, und der Pfarrer lobte unseren Fleiß, weil wir auch nach dem Kommunionsfest so oft wie möglich das Gotteshaus besuchten.
Meine Haare wurden länger und länger; bald fielen sie bis auf den Boden, wenn ich auf einem Stuhl saß und die Pflegemutter mich kämmte. Und mit den Jahren schien auch mein Körper Kraft fürs Wachsen gesammelt zu haben. Mit vierzehn war ich einen ganzen Kopf größer als Mechthild, und aus dem Kind mit dem vorstehenden Blähbauch war ein hübsches junges Mädchen geworden.
Eines Tages passierte etwas, was für mich inzwischen Normalität war, aber gleichzeitig alles Bisherige überstieg. Ich wurde wieder einmal vom Pflegevater gezüchtigt. Doch als ich dieses Mal nach etlichen Schlägen wie ein hilfloses Tier zusammengerollt am Boden lag, hörte er nicht wie sonst auf, mich zu quälen, sondern schlug immer noch auf mich ein. Es war an diesem Tag eine Gewalt aus ihm herausgebrochen, die mich beinahe das Leben gekostet hätte. Ich weinte, wimmerte und flehte ihn an, aufzuhören, als er mir seinen Fuß in den Bauch und gegen den Kopf rammte, und er hätte wohl noch weitergetreten, wenn nicht plötzlich das Blut auf den Boden gespritzt wäre. Diese ungebrochene Wut und der Hass, der sich immer mehr gegen mich, das Kind aus dem Gulag, gerichtet hatte, konnten nicht mehr überboten werden. Das rasende Schnaufen des Pflegevaters, die hilflosen Rufe der Pflegemutter hörte ich längst nicht mehr.
Ich war schwer verletzt. Gemeinsam hoben sie mich hoch und trugen mich ins Bett. Die Pflegemutter versorgte weinend meine Wunden, zog mich vorsichtig aus und streifte mir das Nachthemd über und gab mir ein Schmerzmittel, weil mein jämmerliches Wimmern nicht aufhören wollte. Bernhard, der durch den Krach wach geworden war, saß wie versteinert in seinem Bett und konnte seine Tränen dieses Mal nicht verbergen. Ich war nicht wach, ich war nicht bewusstlos, ich schlief nicht. Ich war wie ausgelöscht.
Mitten in der Nacht fand ich die Kraft aufzustehen. Diesmal wuchsen mir keine imaginären Flügel; nur mein Wille, dieses Haus für immer zu verlassen, half mir, mich auf den Beinen zu halten. Ich wusste, ich würde es nicht überleben, wenn mich der Pflegevater auch nur einmal noch derart quälen würde. Meine tief verletzte Seele könnte nicht mehr auch nur einen Schlag aushalten.
Ich spürte etwas Warmes neben meiner Wange und fühlte mit der Hand an meinem Kopf. Blut? Was war passiert? Meine Augen wollten sich nicht öffnen, und ich wartete, ich wusste nur nicht, worauf. Dann hörte ich ein leises Miauen neben mir. Katze, komm, leg dich zu mir. Katze, du bist mein einziger Freund hier. Ich bewegte meine Lippen, aber es kam nur Atem heraus. »Mutti, Mutti!«, hörte ich plötzlich eine Jungenstimme. »Monika, ich bin es, Franz. Hörst du mich? Mutti kommt, wir helfen dir.«
Tante Frieda und Franz brachten mich auf das Sofa in Tante Friedas Stube, und langsam kam die Erinnerung wieder. »Vati … er … hat … ich …«
»Ganz ruhig, Monika. Du kannst mir später alles erzählen, jetzt bleib liegen, beweg dich so wenig wie möglich und schlaf.«
»Aber … er … er wird mich totschlagen.«
»Er wird dich nie wieder schlagen. Nie mehr. Dafür werde ich sorgen. Jetzt ist endgültig Schluss. Du brauchst keine Angst mehr zu haben, mein Kind.«
Mehrere Tage lag ich im Fieber, und Tante Frieda pflegte mich gesund. Auch die Pflegemutter saß oft an meinem Bett. Auch sie versprach mir, dass der Pflegevater nie wieder die Hand gegen mich erheben werde. »Er geht jeden Tag in die Kirche beten und bittet Gott um Verzeihung. Er hat verstanden, was er dir angetan hat. Er wollte aus dir doch nur einen guten Menschen machen.«
Trotz des Versprechens brauchte ich mehrere Wochen, bis ich ihm wieder begegnen konnte. Die Angst und das Zittern, wenn er im Raum war, hörten jedoch nie ganz auf.
Als ich mit fünfzehn zusammen mit Mechthild für ein paar Tage das Kinderheim besuchte, in dem ich selbst nach
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