Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
gehen könnte. Manchmal hörte ich den Pflegeeltern zu, aber meist fand ich die Gespräche langweilig, und am Ende geschah sowieso das, was der Pflegevater bestimmte. So war es auch dieses Mal. »Monika geht erst nach dem Sommer in die Schule. Bis dahin kann sie dir und Frieda im Haushalt helfen und mir bei der Arbeit auf dem Hof. Dabei lernt sie schon genug!« Und jetzt sah er mir einen Moment lang in die Augen. »Und samstags wird sie nach dem Schuheputzen noch die große Treppe wischen und bohnern. Dafür geben wir ihr dann ein Taschengeld.« Ich hielt dem Blick stand. Was wohl ein Taschengeld war? »Damit kann sie machen, was sie will. Sie soll ruhig schon mal lernen, mit Geld umzugehen.« Er nickte mir zu.
Das Treppeputzen am Vormittag kostete mich viel Zeit und Mühe, denn nach dem gründlichen Wischen musste ich jede einzelne Stufe mit Bohnerwachs einreiben und anschließend mit einem weichen Tuch polieren. Und wehe, eine Stufe glänzte nicht bis in die hinterste Ritze. Dann musste ich noch einmal auf meine geschundenen Knie und die Treppe abermals von oben bis unten bohnern. Am Samstagmittag bekam ich dann fünfzig Pfennig.
»Kann ich mir davon im Laden Bonbons kaufen?«, fragte ich.
»Ja, aber du kannst es auch in deinen Schrank legen und sparen, um dir später etwas zu kaufen, das teurer ist als die Bonbons.«
Ich wusste nicht, was der Pflegevater meinte. »Gut. Dann lege ich es weg und kaufe mir Montag Bonbons«, sagte ich und lief zum Schrank. Bernhard, der auch ein Taschengeld bekommen hatte, kicherte.
Die Samstage gehörten trotz des Taschengeldes nicht zu den Tagen, an denen ich morgens freudig aus dem Bett sprang. Denn wie angedroht, musste ich nach dem Baden am Abend dem Pflegevater jedes Mal meine Fingernägel zeigen. Und obwohl mir die Pflegemutter die Nägel einmal im Monat schnitt, konnte ich das Knabbern nicht lassen. Ich tat es, ohne darüber nachzudenken. Diesmal wusste ich schon, dass es wieder Schläge mit dem Rohrstock geben würde, und ich zitterte bereits. Denn danach brannten die Finger wie Feuer, und der Schmerz ließ lange nicht nach. Auch heute waren die Finger angeschwollen, an ein paar Stellen war die Haut aufgeplatzt, und es blutete. Ich lief mal wieder weinend zu Tante Frieda, die mir an jeder Hand einen Verband anlegte.
Im Dezember, noch vor Weihnachten, war ich das letzte Mal in meinem Versteck auf dem Hügel gewesen, und auch den Pavillon hatte ich ewig nicht besucht. Jetzt saß ich jeden Morgen am Fenster und schaute hinaus, ob es in der Nacht geschneit hatte. Doch seit ein paar Tagen schien immer mal wieder die Sonne, und der meterhohe Schnee schmolz. Bald leuchteten die ersten Frühlingsboten in den Gärten. Weiß, gelb, dunkel- und helllila schauten die Krokusköpfe aus dem Grün vor dem Haus hervor.
»Jetzt dauert es nicht mehr lange, und du hast Geburtstag«, sagte die Pflegemutter.
Ich schaute sie verwundert an. »Aber gibt es denn rote Äpfel am Baum?«
»Rote Äpfel? Wie kommst du darauf? Jetzt gibt es doch keine roten Äpfel.«
»Dann habe ich auch nicht Geburtstag.«
»Aber der Arzt, der dich im letzten Jahr untersucht hat, der meint, dass du im März geboren bist.«
»Dann muss er sich geirrt haben. Ich habe Geburtstag, wenn es rote Äpfel gibt.« Ich blieb dabei, und die Pflegemutter sagte erst einmal nichts mehr.
An einem der nächsten Abende, nach dem Abendbrot, blieben die Pflegeeltern mit mir noch am Küchentisch sitzen, während Bernhard sich schon bettfertig machte. »Mutti hat mir erzählt, dass du sicher bist, dass du nicht im März Geburtstag hast«, sagte der Pflegevater. Ich konnte nicht feststellen, ob er darüber verärgert war, und sagte erst einmal nichts.
»Nun haben wir uns über deinen Geburtstag Gedanken gemacht. Wir wissen nicht, wann du geboren bist, und es lässt sich auch nicht auf den Tag genau feststellen. Was hältst du davon, wenn wir deinen Geburtstag an einem ganz besonderen Tag feiern? Im Mai gibt es einen Feiertag zu Ehren der heiligen Monika. Sie ist deine Namenspatronin. Das wäre doch ein schöner Tag, um deinen Geburtstag zu feiern.«
Ich verstand nur die Hälfte. »Aber wenn es da keine roten Äpfel gibt …«, wandte ich zaghaft ein.
»Die gibt es dann nicht. Aber so feiern wir auch deinen Namenstag.«
Der Blick des Pflegevaters sagte mir, dass er keine Widerrede mehr hören wollte.
Und so feierten wir am 4. Mai 1949 meinen neunten Geburtstag. Und obwohl die roten Äpfel fehlten, wurde es ein heiterer Tag. Im
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