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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Dahlhoff
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Nürnberg, und es waren so viele verschiedene Sachen auf dem Tisch, dass ich gar nicht wusste, wovon ich nehmen sollte. Dann entschied ich, dass mir Brot und Butter bei der Aufregung reichten, die mir sicher auch wieder auf den Magen schlagen würde.
    Die Erwachsenen unterhielten sich während des Essens und lachten viel; Mama streichelte mir hin und wieder über mein Haar, und ihrem Bruder Werner legte sie zwischendurch ihre Hand auf die seine.
    Ich erfuhr, was ich auch schon von Tante Maria erzählt bekommen hatte, nämlich dass Annemarie morgens das Modegeschäft von Mama und Toni öffnete und später dann, wenn die beiden im Laden waren, hier den Haushalt machte. Mir wurde dieses ganze Gerede und Lachen bald zu viel, doch ich wagte es nicht, zu fragen, ob ich mich zurückziehen dürfe. Ich war sehr erleichtert, als Thomas ins Bett wollte und fragte, ob ich auch müde sei.
    »Ja, du bist sicher völlig geschafft von den vielen neuen Eindrücken«, sagte Onkel Werner, und ich nickte.
    »Aber ihr geht nicht, ohne uns ein Gute-Nacht-Busserl zu geben!«, rief Toni.
    Ich zuckte zusammen. Was wollte er?
    »Lass sie gehen«, sagte Onkel Werner. »Es ist doch alles noch so neu für Monika.« Mama stand auf und nahm mich in den Arm, und ich atmete noch einmal tief ihren Geruch ein.
    Warum hast du mich nicht gesucht, Mama? Diese Frage stellte ich meiner Mutter weder am nächsten, noch am übernächsten Tag noch überhaupt in meinem Leben. Wir sprachen über vieles, Mama fragte nach den Pflegeeltern, nach dem Hof der Koehlers und ihrem Landbesitz, nach meiner Schulbildung, nach dem Kinderheim, nach meinem Berufswunsch, Nonne zu werden, worüber sie aber eher schmunzelte. Ich beantwortete brav all ihre Fragen und vertraute ihr meine Probleme mit dem Essen an und dass diese von dem Hunger herrührten, den ich in Russland hatte leiden müssen. Am Tag nach meiner Ankunft redeten wir viele Stunden miteinander; immer wieder wollte sie noch etwas wissen. Und eines Abends fragte sie mich nach ihren Eltern.
    Da musste ich schlucken. Ich wusste nicht, was ich ihr erzählen sollte, was ich aussprechen konnte, was sie wirklich wissen wollte. Ich fing damit an, dass Opa gedacht hatte, es käme noch eine Lieferung Heu. Und dann saßen wir beide auf ihrem Bett im Elternschlafzimmer und weinten, während ich von den Russen sprach, ihren Gewehren, den Schüssen und wie plötzlich alle tot dalagen, Elsa und die Großeltern. Und zum ersten Mal erwähnte ich Peter, unser Peterchen. Mamas Peterchen. Und ich versicherte ihr, dass ich auf ihn aufgepasst hätte, aber dass er auf der langen Fahrt nach Russland krank geworden sei und man ihn mir dann weggenommen habe. Ein Tränenstrom brach bei diesen Worten aus mir heraus, ein Tränenstrom, der wohl alles mit betrauerte, was noch geschehen war, über das ich aber nie, nie, nie mit jemandem sprechen wollte. Ich wollte es vergessen, ich wollte nicht mehr zurück in den Gulag, nicht im Leben und nicht in der Erinnerung. Der Gulag war vorbei. Ich schwieg auch über die Züchtigungen durch den Pflegevater; auch diese waren nun Vergangenheit, freiwillig würde ich dorthin nicht zurückgehen.
    Mama weinte mit mir, als ich von Peter erzählte, aber weinte sie auch um Peter? Sie sprach nie wieder von ihm. Ich war sehr mit mir selbst beschäftigt; vielleicht bemerkte ich deshalb nicht, dass die Fragen meiner Mutter nur die Ränder betrafen. Wir redeten um die eigentlichen Fragen herum, um die Geschehnisse, die sich tief in meine Seele gebohrt hatten. Und ich meinte zu spüren, dass sie selbst keine Fragen hören wollte, die mit unserer Trennung zu tun hatten. Wo bist du damals mit Onkel Fritz hin? Wo hast du während des Krieges gelebt? An welchen Orten danach? Hast du oft an mich gedacht? Hast du mich vermisst? Hast du Angst um mich gehabt? Hast du mich vergessen? Warum hast du mich nicht gesucht? Lauter ungestellte Fragen.
    In Oberstdorf erlebte ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder so etwas wie ein glückliches Familienleben. Es wurde viel gelacht, die Kinder durften sich bei Tisch unterhalten und wurden nie geschlagen. Auch hier übernahm ich bald schon Aufgaben im Haushalt, die ich gern erledigte. So kannte ich es ja auch. Dennoch gab es schwierige Situationen. Das erste Wochenende in Oberstdorf etwa begann vielversprechend. Ich wurde von der Sonne, die durchs Fenster schien, geweckt, und im ganzen Haus roch es nach Hefegebäck. Diesen Geruch kannte ich vom Buchtelnbacken der Pflegemutter. Ich

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