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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Dahlhoff
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Wolfgang und Achim guckten neugierig. Meine Cousine Marlis fragte: »Was ist ein Leberfleck?« Doch die Tante und der Onkel gingen nicht darauf ein. Stattdessen sagte die Tante, ich solle schon mal in mein Zimmer gehen und das Nachthemd anziehen, sie käme gleich. Bereits auf dem Weg die Treppe hinauf in mein Zimmer begann ich zu weinen; ich musste wohl gehorchen.
    Mit einer Gänsehaut am ganzen Körper wartete ich im Bett auf Tante Maria. »Hoffentlich fasst sie mich nicht an, hoffentlich fasst sie mich nicht an«, flehte ich leise. Da ging auch schon die Tür auf, und mit strengem Blick kam die rundliche Frau auf mich zu. Dann ging es schnell. Ich lag diese ein, zwei Minuten wie versteinert da und kämpfte gegen die Übelkeit an. Tante Maria hatte sich zu mir gesetzt, die Decke aufgeschlagen, das Nachthemd hoch und meine Unterhose ein Stück nach unten geschoben. »Da ist er ja. Ich wusste es. Jetzt kannst du zu deiner Mama.« Begeistert schaute mich Tante Maria an; sie schien nicht zu begreifen, was sie mir antat. Nachdem sie aus dem Zimmer geeilt war, wahrscheinlich, um meinen Onkel zu informieren, und vielleicht auch Mama, zog ich mir die Bettdecke bis zum Hals.
    In dieser Nacht wurde ich plötzlich aus dem Schlaf gerissen und dachte zuerst, ich würde schlecht träumen, doch dann spürte ich, dass jemand unter meine Decke kroch. Noch bevor ich schreien konnte, legte sich eine Hand auf meinen Mund, und ich hörte eine Stimme flüstern, ich solle leise sein, sonst würde man uns durch das Ofenrohr hören. Ich bekam kaum Luft und spürte Panik in mir aufsteigen, aber da lockerte sich der Griff. »Wenn du nicht fortgehst, schreie ich«, zischte ich. Es musste einer der Cousins gewesen sein, ich hatte nicht ausmachen können, welcher, sie waren beide hochgewachsene, dünne Jungen.
    Bis zum frühen Morgen lag ich fest in meine Decke gewickelt wach. Weder am Morgen noch später sprach ich mit jemandem über den Vorfall. Wenn ich im Gulag eines gelernt hatte, dann dies: Über Dinge, die nicht sein sollten, spricht man auch nicht.
    »Iss etwas von dem Obst, das Maria uns mitgegeben hat«, sagte der Onkel.
    »Vielleicht später«, erwiderte ich und lächelte. Mein Magen vertrug jetzt keine Nahrung. Ich lehnte den Kopf ans Fenster und schloss die Augen, aber nur, um mich nicht unterhalten zu müssen. Die Aufregung, gleich meine Mama und die neue Familie zu sehen, ließ trotz Schlafmangels keine Müdigkeit in mir aufkommen. Mein Kopf an der kühlen Scheibe schaukelte mit der Fahrbewegung hin und her.
    Jetzt kam mir noch einmal in den Sinn, was Tante Maria mir heute Morgen beim Packen über Mama und ihren neuen Mann erzählt hatte und welchen seltsamen Auftrag sie mir mit auf den Weg gegeben hatte.
    »Es wird eine schwere Zeit auf dich zukommen, Monika. Deine Mama und dein neuer Papa gehen abends viel aus und liegen morgens lange in den Betten. Dabei haben sie vor Kurzem erst ein Modegeschäft in Oberstdorf eröffnet. Das Mädchen, das im Haushalt hilft, geht morgens in den Laden und vertröstet die Kunden auf später. Sie hat es mir am Telefon erzählt. Monika, du musst deine Eltern morgens wachrütteln. Hörst du!« Tante Maria strich mein gefaltetes Sonntagskleid energisch glatt, obwohl es gar nicht verknittert war. Dabei redete sie sich in Rage und hörte auch nicht auf, als mein Koffer längst gepackt war. »Lass sie erst in Ruhe, wenn sie aufgestanden sind. Wenn du das nicht tust, werden sie ihr Geschäft noch verlieren. Wie das Hotel … Und dann kann deine Mama nicht mal mehr ihren Schmuck verkaufen.«
    »Welchen Schmuck?«
    »Ach … ihren Schmuck, was weiß ich …«
    Wie in einem Traum sah ich Oma Clausen mit dem Samtbeutel in der Hand vor mir. »Hat sie den Schmuck von Oma Clausen verkauft? Den hat Oma doch für mich gebracht.«
    Jetzt sah mich Tante Maria entgeistert an. »Du weißt von dem Schmuck? Von Clausens Schmuck? Aber du warst doch noch so klein … Ohne den Schmuck hätten sie das Nebelhorn-Hotel und das Modegeschäft niemals eröffnen können. Weißt du, der Toni, dein Papa, war ein ganz armer Bursche, als ihn deine Mutter geheiratet hat. Sohn von einem Kuhbauern, einem Mann ohne Sitte und Anstand. Er hat dem Jungen mit vier Jahren das Rauchen beigebracht. Und der Toni war auch dabei, wenn er sich Frauen auf die Alm geholt hat … Was ist das denn für ein Vater? Ach, was red ich überhaupt darüber … Jedenfalls war der Toni Klempner, als er deine Mama kennenlernte.« Erst jetzt bemerkte Tante Maria

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