Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Stuhl, aber ohne Umhang. Die Friseurin öffnete meine Zöpfe, und die beiden Frauen staunten, als meine Haare bis zum Fußboden reichten; so hatte auch Mama sie noch nicht gesehen.
»Und die sollen wirklich ab?«, fragte die Frau überrascht.
»Ja, Monika soll eine flottere Frisur bekommen, eine, für die sie morgens nicht so viel Zeit braucht.« Was ich wollte, schien niemanden zu interessieren. Trotzdem wandte ich ein, ich könne gern früher aufstehen und meine Haare allein flechten. Aber Mama reagierte nicht darauf. Ich hörte noch, wie sie ungerührt sagte: »Bis da hin, ja, so ist es gut.« Und dann gab es auch schon einen Ruck, und die Friseuse reichte meiner Mutter ein langes Bündel dunkelblonder Haare. Meine Haare.
Ich strich mir ungläubig über meinen Hinterkopf und war so schockiert, dass ich nicht mal eine Träne vergoss. Ich dachte an den Pflegevater und daran, was er sagen würde, an Schwester Maria und die anderen Nonnen, die alle lange Haare hatten und sie zu einem Knoten gebunden unter ihren Hauben trugen. »Wenn mich die Nonnen jetzt nicht mehr nehmen, bist du schuld«, platzte es aus mir heraus.
Mama versuchte nicht, mich zu trösten, sondern entgegnete kühl: »Wenn dich die Nonnen nur wegen deiner Haare haben wollen, dann sollten sie dir gestohlen bleiben. Und überhaupt, da gehst du erst einmal sowieso nicht mehr hin, jetzt bist du bei uns. Also Schluss mit deinen Nonnen.« Damit wandte sie sich zurück an die Friseuse: »Machen Sie ihr eine Dauerwelle, damit sie wenigstens Locken hat. Dann vergisst sie ihren Zopf sicher bald.«
Dauerwelle sagte mir wieder nichts, aber in diesem Moment hörte sich für mich alles böse an, was aus Mamas Mund kam.
»Ich werde diesen Zopf nach Zuchau schicken, dann können deine Pflegeeltern ihn aufheben und an dich denken.« Damit verließ sie, Marion auf dem Arm, den Laden: Sie habe noch etwas zu erledigen.
Nach einer endlosen Tortur mit Gestank, Ziepen und einer brennenden Kopfhaut kam sie endlich zurück und war wie ausgewechselt. »Kind, wie schön du aussiehst!«, rief sie. »Warte nur, du wirst dich ganz schnell daran gewöhnen und froh sein, dass du so eine pflegeleichte Frisur hast. Nun siehst du wie ein richtig großes Mädchen aus.« Sie bezahlte, und wir gingen ein paar Straßen weiter und kehrten in einem Lokal ein, dessen großzügiger Raum wirklich einladend aussah. Hinten an einem großen Tisch warteten Toni und Thomas und winkten uns schon zu. Beide saßen in kurzen Lederhosen mit Trägern da, wie ich es auch auf der Straße bei einigen Männern gesehen hatte. Mama schritt selbstbewusst durch die Mitte des Raums an einem Mann vorbei, der an einem Tischchen vor einem seltsamen Instrument saß. Die Musik, die er machte, gefiel mir. »Das ist eine Zither«, erklärte Toni mir, als wir uns gesetzt hatten. »Hier in Bayern wird in Gaststätten oft Musik gemacht.« Diese gezupften Melodien ließen alle anderen Gedanken verschwinden, sodass ich darüber auch meinen Kummer wegen der verlorenen Zöpfe vergaß. Außerdem war es mein erster Restaurantbesuch überhaupt, und ich staunte über alle möglichen Dinge und Begebenheiten. Nervös wurde ich, als der Kellner die Speisekarte brachte, und Toni mich bat, vorzulesen, was es heute für Gerichte zur Auswahl gab. Wusste er denn nicht, dass ich kaum lesen konnte?
Da mischte Mama sich helfend ein und sagte: »Schau du für dich in die Karte, Toni, die Kinder bekommen alle das Gleiche. Dann gibt es auch keinen Ärger.«
»O ja, Knödel!«, rief Marion, und ich war erleichtert, zum einen, weil ich die Speisekarte an Toni zurückgeben konnte, zum anderen, weil ich Knödel kannte.
Die Limonade, die der Kellner kurz darauf für uns Kinder brachte, war mir eigentlich zu süß, aber ich hätte sie niemals stehen gelassen oder einem anderen Kind gegeben. Toni trank Bier und Mama Sekt. Dieses sprudelnde Getränk schmeckte ihr anscheinend bestens, denn sie bestellte gleich eine ganze Flasche, die in einem Behälter mit Eis auf einem Servierwägelchen neben unserem Tisch stand.
Mama und Toni unterhielten sich angeregt, und es kamen auch immer mal wieder andere Gäste an unseren Tisch. Wir Kinder spielten mit Bierfuizln, wie Toni die Untersetzer für sein Bier nannte. Es war bald später Nachmittag, und ich dachte, wir gingen nun nach Hause, als Toni aufstand, sich kurz mit dem Musiker besprach und dann zu einem Lied zu tanzen begann. Wenn man das tanzen nennen wollte, was er da machte, denn er hopste mehr
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