Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
sie und löste meine Arme von ihrem Hals. »Aber jetzt hopp, hopp, raus aus den alten Sachen.« Und dann stand ich in meiner von Tante Frieda gehäkelten Wollunterhose da, und Mamas Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Na, diese Liebestöter sind nun wirklich nichts mehr für ein so hübsches Mädchen wie dich.«
Was meinte sie denn mit »Liebestöter«? Ich trug doch ganz normale Unterhosen. Ich fühlte mich unwohl. Einmal, weil ich mich auch vor ihr nicht ausziehen mochte, aber auch, weil sie mir das Gefühl gab, alles Bisherige sei falsch. Ich sei falsch.
Sie reichte mir das Spitzenhöschen. »Da erkälte ich mich doch!«, versuchte ich es abzuwehren, aber Mama lachte nur. Mit einem Kloß im Hals streifte ich die Häkelhose vom Körper und die neue Wäsche über. Zuletzt hielt sie mir das Kleid hin. »Dies ist ein besonders schönes und teures Dirndl, Monika. So etwas trägt man hier in Bayern. Diesen handbedruckten Stoff gibt es nicht noch einmal, man wird dich darin bewundern.«
Ich fühlte mich nicht wohl in den neuen Sachen, ich kam mir selbst fremd vor. Doch zu meiner Überraschung drehte mich Mama um, und ich sah mich vor ihr, ihre Hände auf meinen Schultern, im großen Spiegel an der Wand. Ich musterte mich eine Weile und atmete erleichtert auf. Was ich sah, gefiel mir. »Nun musst du nur noch die Schuhe anprobieren. Hier, Monika. Aber die sind nur für draußen, hier im Haus ziehen wir Hausschuhe an.« Ich konnte es kaum glauben, was für feine weiße Schuhe ich anziehen sollte. Sie hatten einen flachen hellbraunen Absatz. Hoffentlich würde ich sie nicht schmutzig machen.
Als wir in die Küche kamen, wo Toni mit den Kindern wartete, riefen alle durcheinander, wie schön ich aussähe. Toni rutschte auf seinem Stuhl ein wenig zur Seite und gab mir ein Zeichen, dass ich zu ihm kommen solle. »Lass dich mal ansehen!«, rief er. Mit zögerlichen Schritten ging ich zu ihm. Und ich war noch nicht ganz in seiner Nähe, da zog er mich auf seinen Schoß. Lachend rief er: »Und? Wie steht mir meine große Tochter?« Auch die anderen lachten, und Toni scherzte weiter. Doch Mama schien zu bemerken, dass ich mich nicht wohlfühlte. »Ach, Toni, lass Monika runter, ihr kennt euch doch noch gar nicht richtig.«
Er folgte Mamas Bitte sofort, und ich atmete erleichtert auf. Seltsam, dass ich die Nähe zu meinem neuen Papa zwar noch unangenehm fand, aber gar nicht gezittert hatte. Dieses Zittern, das ich bei den Soldaten und dem Pflegevater und überhaupt bei Männern hatte. Ein Zittern, das mit allem rechnete. Wie gern würde ich endlich einmal wieder einen lieben Papa haben, wie mein Papa im Himmel einer gewesen war.
»So, Toni«, sagte Mama. »Ich gehe mit Monika heute Vormittag noch zum Friseur. Marion nehmen wir mit. Wir treffen uns dann um halb zwei zum Mittagessen beim Fellhornwirt.« Und als wir aus der Tür gingen, rief sie noch: »Und kommt nicht zu spät, sonst schließt die Küche.«
Ich wusste nicht, was der Besuch bei einem Friseur für mich bedeutete, ich wusste ja gar nicht, was ein Friseur war, und ging froh gelaunt mit Mama, die Marion an der Hand hielt, durch den Ort. Sie trug ebenfalls ein Dirndl und sah umwerfend aus. Ihre ganze Person strahlte, und sie erregte geradezu Aufsehen, während wir durch die Straßen gingen. Und auch die kleine Marion mit ihrem lockigen Haar zog bereits Aufmerksamkeit auf sich. Sie trug ein hellblaues gestricktes Röckchen mit aufgestickten Edelweißblüten, dazu ein Spitzenblüschen und eine Weste passend zum Rock darüber. Kein Wunder, dass auch ich neu eingekleidet worden war: Neben den beiden hätte ich sonst wie eine Dienstmagd ausgesehen. Und ein bisschen hatte ich mich auch so gefühlt. Zumindest kam es mir stimmiger vor, wenn ich im Haushalt half, als wenn ich neben Mama durch Oberstdorf flanierte. Alle Leute, die uns begegneten, grüßten die Frau mit der kleinen und der großen Tochter. Mit einigen wechselte sie ein paar Worte und stellte mich sogar vor. Ich wurde jedes Mal rot und knickste höflich.
Vor einem Geschäft, in dessen Schaufenster mehrere Bilder von Frauenköpfen hingen, blieb Mama schließlich stehen. »Schau nur, wie schön diese Frauen die Haare haben«, sagte sie. Zöpfe waren nicht dabei, und mir schwante, was nun folgte.
Kurz darauf saß ich in einen Umhang gehüllt vor einem Spiegel und sah darin mich, Mama und eine Friseurin, die meine Zöpfe in ihren Händen hielt. Marion saß neben mir, ebenfalls auf einem höhenverstellbaren
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