Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
sprang aus meinem weichen Himmelbett, streifte die Berglandschaft, die man durchs Fenster sah, nur mit einem kurzen Blick und öffnete leise die Tür zum Flur. »Riechst du den Zopf, den Mama gebacken hat? Komm schnell, damit wir noch etwas abkriegen.«
Noch bevor ich fragen konnte, was für einen Zopf Thomas denn meinte, zog er mich hinter sich her in die Wohnküche, wo Mama, Toni und Marion bereits am Frühstückstisch saßen.
»Guten Morgen, Monika, setz dich zu mir!«, rief Mama. »Hast du gut geschlafen? Schau mal, was ich für dich gebacken habe. Mit Butter und Marmelade ist der Hefezopf ein Gedicht …«
Meine Blicke suchten den Tisch ab, der wie bei allen Mahlzeiten so voll war mit Leckereien, dass ich das geflochtene Gebäck auf der Glasplatte nicht sofort entdecken konnte. Hier im Allgäu schien es alles in Hülle und Fülle zu geben. Zucker zum Beispiel, den hatten wir in Zuchau nur selten bekommen, hier in Oberstdorf stand er in einem Kristallschälchen mitten auf dem Tisch. Jeder konnte sich davon nehmen, auch die Kinder brauchten nicht darum zu bitten.
Mama hielt mir eine Scheibe von dem Hefegebäck hin und fragte: »Du magst doch Zopf, oder?« Ich nickte, obwohl ich bei dem Wort »Zopf« auch zusammengezuckt war, denn in Zuchau hätte ich niemals ungewaschen und ungekämmt am Frühstückstisch Platz nehmen dürfen. Ich saß jetzt wie versteinert auf meinem Stuhl und hielt meine Zöpfe und die Strähnen, die von der Nacht noch heraushingen, fest.
»Monika, was ist denn? Magst du den Zopf nicht?« Ich wollte das Wort am liebsten nicht mehr hören. Ich war völlig verwirrt und wäre am liebsten wieder aufgestanden und erst einmal ins Bad gegangen. Aber ich traute mich nicht. Ich traute mich auch nicht, darüber zu sprechen, was mich bewegte. Ich war völlig durcheinander. Mama hatte mir inzwischen die Scheibe mit Butter und Marmelade bestrichen und sie mir auf meinen Teller gelegt. Aber ich schaffte es nicht, mit dem Essen zu beginnen. Solange in meinem Kopf ein solches Chaos herrschte, würde ich keinen Bissen hinunterbekommen. »Ich habe die Haare noch gar nicht geflochten«, sagte ich, weil mich alle anschauten und darauf warteten, dass ich entweder zu essen begann oder mitteilte, was mich davon abhielt. »Will auch so lange Haare haben«, sagte Marion, die in einem Kinderstühlchen neben mir saß.
»So lange Haare machen nur Umstände«, äußerte sich meine Mutter plötzlich und klang ungewohnt streng. »Wir werden deine Haare in der nächsten Woche abschneiden lassen; ich kann sie dir nicht jeden Morgen flechten, und allein kommst du damit nicht zurecht.«
Hatte sie das wirklich gesagt? Meine Haare sollten abgeschnitten werden? Seit Russland war das mehr als ein sensibles Thema für mich. Und in Zuchau hatte ich, nachdem ich mir einmal eine kleine Strähne selbst abgeschnitten hatte, weil ich einen Pony haben wollte, den Siebenzagel zu spüren bekommen. »Der Pflegevater hat aber verboten, meine Haare abzuschneiden«, sagte ich.
Mama und Toni lachten. »Jetzt bist du bei uns. Und solche Verbote kennen wir nicht.« Toni räusperte sich amüsiert.
Ich saß mit hängendem Kopf über meinem Teller und versuchte, die Tränen hinunterzuschlucken. Da hielt mir Marion ein Stückchen von ihrem Zopfgebäck hin, aber ich sagte bloß »Danke« und dass ich nicht hungrig sei.
Wenn wenigstens Onkel Werner noch da gewesen wäre, vielleicht hätte er zu mir gehalten.
In ihrem Schlafzimmer hatte Mama an einem der nächsten Tage lauter Kleidungsstücke für mich bereitgelegt. »Komm, probier mal an«, sagte sie. Ich blieb wie angewurzelt im Raum stehen, und Mama, die meinte, ich würde mich vor den Geschwistern schämen, schickte Thomas mit Marion zu Toni ins Wohnzimmer. Dann zog sie mich zu sich heran und zeigte noch einmal auf das Bett, auf dem ein weißes Hemdchen, ein weißes Höschen mit Spitze, Söckchen und ein hellblaues Kleid mit Blumenmuster und einem weißen Bluseneinsatz sowie eine Schürze lagen. Solche Art Kleidung hatte ich noch nie gesehen. Vor allem das kleine Höschen … Es würde mir sicher gar nicht passen, hoffte ich. »Ich hab doch noch gar keinen Namenstag«, sagte ich verlegen und um etwas Zeit zu schinden.
»Ach, wir feiern doch lieber deinen richtigen Geburtstag, im November, am 29. November.«
Für einen Moment vergaß ich die Wäsche auf dem Bett und fiel Mama um den Hals. »Bekomme ich dann auch rote Äpfel?«, fragte ich und lachte. »Aber selbstverständlich«, antwortete
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