Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
ging, sagte Mama, ich würde im Haushalt gebraucht. Und jetzt bewahrheitete sich doch noch, was Tante Maria geunkt hatte. Wenn Annemarie längst im Laden war und ich den Kindern Frühstück gemacht hatte, lagen Mama und Toni noch im Bett und schliefen ihren Rausch aus, denn sie gingen fast jeden Abend aus und kamen meist erst spät in der Nacht nach Hause. Oftmals mit Gepolter, immer öfter hatten sie auch Streit, dann hörte man sie im Schlafzimmer laut zanken. »Wenn du sie nicht weckst, verlieren sie ihr Geschäft«, hatte Tante Maria gesagt.
Vorsichtig öffnete ich an diesem Morgen die Tür zum Elternschlafzimmer und sagte leise: »Mama, Papa, ihr müsst aufstehen.«
Papa brummte etwas Unverständliches und drehte sich auf die andere Seite. Ich war leise zum Bettende gegangen und überlegte, wen von beiden ich wachrütteln sollte, als Toni plötzlich mit einem lauten »Buh« hochsprang und die Decke von sich warf. Ich wäre vor Schreck beinahe tot umgefallen, und auch Mama war hochgeschossen, als fürchte sie um ihr Leben. Jetzt lachte Toni laut und nachdem Mama sich ereifert hatte, was das alles denn solle, sie hätte ja einen Herzschlag bekommen können, fing auch sie an zu lachen. Ich konnte nun auch nicht mehr anders, und wir lachten alle drei.
Ich entschuldigte mich und wagte nicht zu sagen, dass ich den Auftrag von Tante Maria hatte. Jedenfalls war es das erste und für die nächste Zeit auch letzte Mal, dass ich solch einen Weckversuch startete.
Immer häufiger schlich sich nun morgens Thomas in mein Bett, zum Kuscheln, auch er bekam nicht wirklich viele Streicheleinheiten von Mama. Aber eines Morgens bat er mich, dass ich ihm aus einem Buch vorlese. Ich schämte mich sehr, dass ich als große Schwester nicht gut lesen konnte, sodass ich es ihm mit einer Ausrede verweigerte. Nach einer Weile ging die Tür auf, und zu meinem Erstaunen kam Mama ins Zimmer. Um diese Uhrzeit schlief sie sonst noch. »Na, ihr beiden? Was macht ihr denn für Gesichter«, sagte sie und setzte sich auf die Bettkante an meiner Seite.
»Ach, nichts«, sagte Thomas. Ich schwieg.
»Aber ich sehe doch, dass du etwas hast, Thomas.«
»Monika will mir nichts vorlesen«, hauchte Thomas.
Mama blickte mich zornig an. »Ich glaube, du hast deinen Bruder nicht lieb.«
Und dann rief sie: »Los, sag dass du deinen Bruder lieb hast!«
»Ich weiß es noch nicht«, sagte ich trotzig. Die Ohrfeige, die sie mir gab, knallte laut. Thomas sprang auf und rief, dass sie mir nicht böse sein solle. Ich würde ihm sicher morgen vorlesen. Ich hielt mir die Wange. Mama war längst vom Bett aufgesprungen und zur Tür gegangen, als ich mich sagen hörte: »Du darfst mich nicht schlagen. Niemand darf mich mehr schlagen.«
Mama knallte die Tür von außen ins Schloss, Thomas lief hinter ihr her, endlich war ich allein. Allein mit meiner Wut, allein mit meiner Enttäuschung und Traurigkeit.
Über diesen Vorfall am Morgen verlor keine von uns jemals ein Wort. Es gab keine Erklärungen, kein »Es tut mir leid«.
Von nun an sprach ich abends, wenn die Sterne am Himmel zu sehen waren, wieder häufig mit meinem Papa im Himmel. Und es waren oft Sterne am Himmel, denn es gab viele klare Sommernächte in diesem Jahr. Erst mit dem Herbst zog sich der Himmel tagsüber wie auch nachts häufiger zu, und ich suchte den graublauen Nachthimmel vergeblich ab.
»Wir haben uns überlegt, dass du das Befeuern des Ofens als Aufgabe übernehmen könntest. Jetzt wird es langsam kälter. Du musst regelmäßig nach dem Feuer schauen, es darf in der Nacht nicht ausgehen«, sagte Mama eines Tages. »Annemarie zeigt dir alles.«
Der Keller, in den mich Annemarie führte, war bei Weitem nicht so unheimlich wie der Keller in Zuchau. Es gab hier getünchte Räume, in einem kleineren Raum standen Tonis Skier, in einem größeren lagerten Möbel, sodass es fast schon wohnlich aussah. Auch Annemarie hatte hier Möbel aus ihrem Elternhaus untergestellt.
Von nun an ging ich jeden Abend in diesen Keller und legte Holz nach. Und wenn die Flammen hochflackerten, schlug ich schnell die Ofentür zu, denn immer noch überkam mich bei züngelnden Flammen oder offenem Feuer Panik, und die Bilder vom brennenden Hof meiner Großeltern drängten sich in mein Gedächtnis.
Immer öfter hatte ich das Gefühl, dass ich für meine Mutter nicht mehr war als eine Hilfe im Haushalt, auch wenn ich mir die Arbeit mit Annemarie teilte. Liebe wurde mir jedenfalls nicht zuteil, dabei sehnte ich mich
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